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Berlin: Richard Krüger, geb. 1901

Am 23. November 1943 machte Richard Krüger wie üblich Überstunden.

Am 23. November 1943 machte Richard Krüger wie üblich Überstunden. Er plante in einer Wilmersdorfer Spedition die Touren der Lieferautos - ein wichtiger Job in den Zeiten der Kriegswirtschaft, so wichtig, dass Glückspilz Krüger "UK gestellt" war: unabkömmlich, für den Fronteinsatz nicht zu haben. Gegen halb neun am Abend verließ er die Spedition, stieg in die S-Bahn und fuhr über den Ring in Richtung Westhafen.

Am Bahnhof Jungfernheide ging es nicht mehr weiter. Alle Männer hinaus zum Löscheinsatz, hieß es. Die Stadt war wieder einmal bombardiert worden, und dabei waren Bomben auf die Laboratorien von Schering gefallen. Die Männer aus der S-Bahn wurden zu den brennenden Ställen gebracht, in denen die Versuchstiere der Chemiefabrik untergebracht waren. Bis spät in die Nacht zog Richard Krüger störrische Pferde, zögernde Kühe und blökende Schafe durch die Gegend.

Als er endlich nach Hause durfte, ging es gleich weiter: Auch in sein Wohnhaus war eine Brandbombe gefallen. Zum Glück waren Frau und Kinder seit dem Sommer auf dem Lande. Es blieb gerade noch genug Zeit, die wichtigsten und teuersten Dinge aus der Wohnung hinauszuholen.

Die meisten Fotos aus Richard Krügers frühen, jugendbewegten Jahren sind damals verbrannt. Eines gibt es noch: Hinten steht das Datum, 7. Oktober 1928, und der Aufnahmeort: "bei Rangsdorf". Ein Fuchs ist auf dem Bild zu sehen, und wer genau hinguckt, sieht, dass eine Pfote in der Falle steckt. Richard Krüger hat den Fuchs gleich nach der Fotoaufnahme befreit, eine Selbstverständlichkeit, ach was: eine Pflicht für einen "Wandervogel".

"Wandervögel" nannten sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Jugendliche, die die städtische Enge und die strenge Erziehung nicht ertrugen. Wenn sie im weißen Hemd mit weit geöffnetem Schillerkragen durchs Grüne wanderten, an Seeufern zelteten und am Lagerfeuer ihre Liedlein sangen, erlebten die jungen Leute eine Freiheit, die sie anderswo nicht fanden. Und wenn es einen Fuchs zu befreien gab, so war das eine großartige Sache. Sonderlich politisch waren die trällernden Waldgänger freilich nicht - ein Grund, weshalb diese Jugendbewegung zu Richard Krügers Wanderzeiten nicht mehr die große Rolle spielte wie noch im Kaiserreich.

Wie dem auch sei, Krüger konnte seinen strengen Eltern und ihrem Tante-Emma-Laden entfliehen, er marschierte seinen Freunden forsch voran und fiedelte auf seiner Geige im Wandertakt. Zum Wandervogel ist er übrigens gekommen als einer, der schon zuvor jugendverbandelt war. Anfangs aber noch im CVJM, dem Christlichen Verein Junger Männer. Da gab es, wie sollte es anders sein, keine Mädchen. Grund genug für einen Mittzwanziger, zum Wandervogel zu wechseln. Und prompt lernte Richard Krüger hier auch seine Frau kennen.

Die beiden heirateten im Paradies, wie es sich die "Naturköstler", die Urahnen der Müsli-Esser und Biobauern so vorstellten. Die hatten ihre Siedlung, gleich neben Oranienburg, Eden genannt, lebten dort ganz vegetarisch und ernteten ihre Lebensmittel alle selbst. Die Siedlung gibt es noch heute, und naturtrüben Apfelsaft namens "Eden" kann man im Bio-Laden kaufen.

Dass Richard Krüger, der Wandervogel, auf die Lebensreformer im Norden von Berlin stieß, ist nicht weiter verwunderlich. Er verbrachte viele Wochenenden in der Reformkolonie, zog aber nie dorthin. Er war ja weder Bauer noch Ideologe noch Künstler.

Richard Krüger war zeit seiner Berufstätigkeit Speditionskaufmann, stets bei derselben Firma, auch wenn immer wieder Eigentümer, Namen und Niederlassung wechselten. Kartoffeln aus Pommern, Ölsardinen aus Griechenland, Wein aus Ungarn: all das landete bei ihm, und er sagte, welcher Transporter das Zeug in welche Ecke der Stadt zu bringen hatte. Die Lieferanten waren von der Gunst des Organisators abhängig, und so gab es immer mal kleine Geschenke für die Familie Krüger. Einmal waren es fünf Liter Olivenöl. Das nahm die Mutter dann auch statt Margarine für den Reibekuchen - und die Kinder bekamen fürchterlichen Durchfall.

Mit einiger Regelmäßigkeit bekam Richard Krüger auch ungarischen Wein. Eine Flasche davon öffnete er feierlich jeden Sonntag. Dem Wein und auch dem Kotelett, das es bei den Krügers einmal in der Woche gab, schrieb der alte Herr die lebenserhaltende Wirkung zu. Die vegetarischen Lebensreformer, die er in den zwanziger und dreißiger Jahren kennen gelernt hatte, waren alle längst gestorben, als Richard Krüger ihnen nun folgte. Vier Tage vor seinem hundertsten Geburtstag. DAVID ENSIKAT

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