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Berlin: Rochus Misch (Geb. 1917)

Er war sein Telefonist. Und später für viele eine Enttäuschung

Sein Leben ist käuflich, als Buch für 9,99 Euro, 330 Seiten, „Der letzte Zeuge“. Er hat alles aufgeschrieben, weil es ihn irgendwann nervte, dass alle Welt zu ihm kam und fragte, wie sein Chef wirklich war. Da saßen die Leute mit Notizblöcken und Kameras in seinem Häuschen in Rudow, er holte einen Schuhkarton nach dem anderen aus Schränken und Truhen, Fotos und Zeitungsausschnitte: immer er und er. Der Zufall hatte ihn zu ihm geführt, sein Chef hätte vielleicht gesagt: „die Vorrrrsähung.“

Rochus Misch war ein schmucker Kerl, Gardemaßgroß, kräftig, sportlich. Bei der Musterung für die Wehrmacht hieß es, er solle vier Jahre in einer „Verfügungstruppe“ dienen, um danach automatisch in den Staatsdienst übernommen zu werden. „Ich dachte, so käme ich zur Bahn.“ Die Verfügungstruppe wurde Teil der SS, Misch war beim Überfall auf Polen dabei und sollte als Parlamentär die Übergabe der Festung Modlin verhandeln. Es wurde auf ihn geschossen, die Patrone bohrte sich wenige Zentimeter vom Herzen entfernt durch den Arm.

Als sie in Berlin einen jungen Mann als Telefonist, Kurier und Leibwächter suchten, schlug sein Kompaniechef den genesenen, stets pflichtbewussten Mann aus Oberschlesien vor. Im Mai 1940 brachte ein Auto Rochus Misch in die Reichshauptstadt, Adresse Wilhelmstraße 77, die Reichskanzlei und die Wohnung Adolf Hitlers.

Er war ihm schon einmal begegnet, 1936. Da war Hitler auf dem Weg ins Olympiastadion direkt an ihm vorbeigefahren, die Massen hatten gejubelt und geschrien, der 19-Jährige war tief beeindruckt. Jetzt war er 23 und gehörte zur Entourage des „Führers“. Dass der „ein ganz normaler Mensch und freundlicher Chef“, gewesen sei, beteuerte Misch später immer wieder. Die Telefonisten und Leibwächter waren stets um ihn; dennoch: „Wenn man mich mit Pfefferspray unschädlich gemacht hätte, konnte man den Hitler nachts überwältigen: 22 Stufen weiter war man schon in seinem Schlafzimmer.“

Die Überwältigung fand bekanntermaßen nicht statt, dafür saß der nette Chef am Ende seiner Tage, nachdem er einen Kontinent ins Unglück gestürzt hatte, im Bunker hinter der Reichskanzlei und schien sein Vorbild anzuflehen. Rochus Misch beschrieb die Szene: „Es war tief in der Nacht. Da saß er, das Kinn in den Händen vergraben, regungslos, und starrte bei flackerndem Kerzenlicht auf das Ölbild Friedrichs des Großen, das Hitler stets auf Reisen mit sich führte. Der König schien ihn anzustarren.“ Später hörte Misch den Schuss und sah, wie Hitlers Leichnam hinausgetragen wurde. Dann kam Goebbels und sagte zu ihm: „Sie können jetzt Schluss machen. Wir haben verstanden zu leben und werden auch verstehen zu sterben. Ich gehe.“ Fünf Minuten später war auch der Propagandaminister tot. Misch versuchte zu fliehen, russische Soldaten nahmen ihn am Stettiner Bahnhof gefangen und brachten ihn nach Moskau. Er wurde verhört, gefoltert, geschlagen, er sollte sagen, wo Hitler war. Es hieß, er sei entkommen.

Misch wurde zum Tode verurteilt, aus Gnade wurden daraus 25 Jahre Zwangsarbeit wegen „Unterstützung des Naziregimes“. Nach acht Jahren kam er frei, am 16. Februar 1954 war er wieder bei seiner Frau in Rudow, eröffnete ein Malergeschäft und erwiderte auf Vorwürfe: „Ihr habt doch auch alle gejubelt, oder?“

Für ihn blieb Hitler bis zuletzt der Chef, der immer nett zu ihm gewesen war. Auf die große Politik hatte man ja keinen Einfluss. Vom Thema KZ sei nie die Rede gewesen. Und dann, als alles bekannt war? – „Es wird wohl so gewesen sein.“ Üb immer Treu und Redlichkeit! Nie wäre Rochus Misch auf die Idee gekommen, seinen Chef zu erschießen – „das haben ja die Herren Offiziere auch nicht getan, damals, im Wald, als es oft möglich gewesen wäre. Wieso also ich?“

Letztlich war der Telefonist, der immer alles zuverlässig durchgestellt hatte, für viele eine Enttäuschung. Die einen erwarteten, dass er sein Soldatenleben und seinen Chef verdammte. Das tat er ebenso wenig wie mit den Rechten zu paktieren. Er sprach immer nur von den Dingen, die er erlebt hatte, zum Beispiel, dass dem Göring einmal ein Colt aus der Tasche gefallen ist, als er ihm aus dem Mantel half.

„Er war der einsamste Mensch“, sagt ein Freund. Mischs Lebensthema war seine Vergangenheit an Hitlers Seite, die hat er wohl tausendmal erzählt. Er verschickte Autogrammpostkarten und war arglos und blauäugig Fremden gegenüber. Man bestahl ihn mehrmals, sein Eisernes Kreuz und das Verwundetenabzeichen sind so verschwunden.

Seine Frau, eine ehemalige SPD-Abgeordnete, die an Alzheimer erkrankte, pflegte er fünf Jahre lang bis zu ihrem Tod.

In den letzten Jahren war er ein gefragter Zeitzeuge, kaum eine Dokumentation über Hitlers Untergang kam ohne seine Schilderungen aus. Und dann wurde Rochus Misch gemieden: Zur Premiere vom „Untergang“, dem Film über Hitlers Ende, war er eingeladen. Zwei Stunden vor der Premiere rief der Produzent an und bat, er möge doch nicht kommen. Es sollte kein SS-Mann unter den Gästen sein. Als Misch den Film dann im Kino sah, fand er, dass Bruno Ganz die Wutausbrüche seines Chefs ganz übertrieben dargestellt habe: „So habe ich den nie erlebt.“

Einer hatte keine Scheu, sich mit Misch fotografieren zu lassen: Ex-Politbüro-Mitglied Günter Schabowski, der in einem Plattenbau ganz in der Nähe der zerstörten Reichskanzlei wohnte. Er traf Misch, als der mal wieder Touristen den plattgewalzten Führerbunker zeigte. „Wir haben etwas Gemeinsames“, sagte Misch, „sie haben das vierte Reich aufgelöst und ich, als ich damals den Bunker abgeschlossen habe, das Dritte.“ Lothar Heinke

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