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Berlin: Roderich Kalbitzer (Geb. 1955)

„Für meine Therapie sind die Beach Boys wichtig.“

Es ist fünf Uhr am Morgen. Roderich schiebt sacht die Decke zurück, setzt lautlos die Füße auf den Boden, schaut hinauf zum fahlen Himmel, dann hinab auf die schöne schlafende Aynur, steht auf, öffnet eine Tür, Serhad in seinem Kinderbett, ein zartes Beben um die geschlossenen Lider, Zeichen eines fernen wilden Traumes, schließt die Tür, steigt hinunter, kocht einen starken Kaffee, dreht sich eine Zigarette, zieht die Pet Sounds der Beach Boys aus dem Regal, langsam sinkt die Nadel auf die Rille, es knistert, alle Muskeln in Roderichs Körper spannen sich, ein letztes Knacken, die Stille bricht, Wouldn’t it be nice if we could live here / make this the kind of place where we belong.

„Für meine Therapie sind die Beach Boys wichtig. Das meine ich ehrlich. Ich weine bei dieser tollen Musik. Wenn ich das überstanden habe, schreibe ich Brian Wilson.“ Das überstehen, heißt die Krankheit überstehen, den Krebs, der ihm die Zunge lähmt, seine tiefe, weiche, klare Stimme, mit der er spielte wie auf einem Instrument, in die Aynur sich einst verliebte, diese Stimme ist verstummt. Alles, was Roderich sagen möchte, muss er aufschreiben, in blaue und bunte Ringbüchlein, in schwarze Kladden. Wenn er das Schweigen überstanden hat, wird er Brian Wilson einen Brief schreiben.

Hören aber, das kann Roderich. Konzentriert, hingerissen, hört er auf die Musik, auf die Greatful Dead, Pink Floyd, Monk, Howlin’ Wolf. Schallplatten, CDs, tatsächlich Tausende, stehen im Keller. Dazu Lexika, Zeitschriften, vergilbte Zeitungsartikel aus den Fünfzigern, Raritäten: eine rostige Metallbox, The Bill Evans Complete Collection, ein quadratischer Karton mit allen jemals erschienenen Singles der Rolling Stones. Die Schallplatten und CDs aus dem Keller sollen hinauf ins Haus, in eigens angefertigte Regale, zur Anlage, zu den neuen, brillant klingenden Lautsprechern.

Roderich ist kein Gitarrist, kein Toningenieur, kein Sänger. Er ist Plattensammler. Mit elf hört er ein Lied im Radio, läuft zu seiner Mutter, atemlos, sagt: „Diese Platte möchte ich haben.“ Er bekommt diese erste Platte. Sucht und findet immer weiter, überall, in den Musikkaufhäusern, in verwinkelten Lädchen, auf Flohmärkten. Auf den Gegenstand kommt es auch an, das schöne Ding in den Händen halten, nach Hause kommen und beglückt zu Aynur sagen: „Endlich hab ich diese seltene Dylan-Aufnahme gefunden.“

Das Schöne zieht Roderich an, das Aufgesetzte, Gespreizte stößt ihn ab. Alles, was er hört oder nicht hört, macht ihn hellhörig. Er liebt Gespräche, verabscheut Gerede, kleinkarierte Leute und großkotzige Männer, reagiert ironisch, manchmal zornig, muss sich auch vorsehen, denn genau hören kann man in einer Weise nur rücksichtslos, seine feine Ironie wird zu beißendem Humor, seine Wut macht mitunter sprachlos. Privat zeigt er sich vorsichtig, zieht sich zurück, in eigene Welten, beruflich schafft er das nicht immer. Er ist Gartenbauingenieur im Bezirksamt Neukölln, desinteressiert an Karriere und Einfluss. Und doch ermüdet ihn diese Verwaltungstätigkeit, lässt ihn zu oft an seinen Vater, einen promovierten Philosophen, seine Mutter, eine Künstlerin denken, bürgerliche begüterte Eltern, deren Ansprüche er nicht erfüllte.

Aber das Schöne ist ja bei ihm. Aynur und Serhad. Als Serhad geboren wird, nimmt Roderich zwei Jahre Erziehungsurlaub, liebt es, seinem Sohn vorzulesen, mit ihm spazieren zu gehen. Jeden Freitag zögert er die kleine nachmittägliche Mahlzeit für ihn hinaus, setzt Serhad in den Kinderwagen, fährt in die Friedrichstraße, zu Dussmann, reicht ihm erst im Geschäft ein Brötchen, nimmt eine Platte aus dem Regal, betrachtet aufmerksam die Hülle, schaut zärtlich hinüber zu seinem kauenden Kind, denkt, das ist Glück.

Aynur legt „What’s going on“ von Marvin Gaye in Roderichs Sarg, die Platten der Beach Boys in das Grab. Wouldn’t it be nice if we could live here/ make this the kind of place where we belong. Tatjana Wulfert

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