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Berlin: Rosemarie Strebe (Geb. 1924)

Die Nachbarn hier mögen mich auch nicht besonders.

Mit den Kindern von der da drüben spielst du nicht!“ Die Tochter zieht den Kopf zwischen die Schultern. Die Mutter wendet sich ab, putzt weiter die Fenster, nach hinten raus. Nach vorn läuft die Tochter, hinüber auf die andere Straßenseite, zu den Kindern, mit denen sie nicht spielen darf.

Die Mutter und die Tochter und die Kinder von gegenüber wohnen in Zehlendorf, in Bruno-Taut-Häusern, in der Straße Am Fischtal, in verschiedenen Welten. Die Welt von Mutter und Tochter ist die bürgerliche, die der Kinder von gegenüber die einfache. Die Dächer auf den Häusern der Bürger sind spitz, also traditionell, die Dächer auf den Häusern der Einfachen flach, also modern. Die Leute auf der bürgerlichen Seite beobachten die Leute auf der einfachen Seite durch einen Spalt der zugezogenen Gardinen, verziehen ihre Münder. Es gibt da auch noch diese Frau, die sich die Lippen rot anmalt, die mit ihren Kindern tobt, deren Väter irgendwo leben. Diese Frau, denken die aus den Spitzdachhäusern, passt nicht hierher, nicht einmal unter ein flaches Dach, unsere Ruhe wollen wir. Ruhe. Ein infames Wort, empören sich einige junge Menschen in der Siedlung. Ruhe? Nach allem, was war? Schweigen wollen diese Leute. Verschweigen. Ihre nationalsozialistische Gesinnung, die kürzlich noch in aller Offenheit zutage getreten ist. Die jungen Menschen wohnen verstreut in kleinen Zimmern zur Untermiete, halten sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, treffen sich an den Abenden und spielen Gitarre. Die Leute, die ihre Ruhe haben wollen, verabscheuen das Gitarrenspiel, verabscheuen diese jungen Menschen. Also ziehen die weiter, zur Krummen Lanke, sitzen abseits am See und spielen ihre Musik. Zwei Mädchen kommen eines Tages zu den jungen Menschen, laden sie ein mitzukommen, in das Haus ihrer Mutter, ja, ja, das geht schon, sie wird sich freuen. Eine Frau, rote Lippen, dunkles Haar, öffnet die Tür, ich heiße Rose Strich Marie, Strich wie Auf-den- Strich-Gehen, einfach nur Rosemarie ist langweilig, die Nachbarn hier mögen mich auch nicht besonders. Sie kichert. Die jungen Menschen stehen bewegungslos. Rosemarie greift nach ihren Händen, na los, fürchtet euch nicht, zieht sie hinein in das Haus, kocht aus Wenigem ein gutes Essen, liest ihre Gedichte vor, verliebt sich in einen der jungen Menschen, dann in einen anderen, die jungen Menschen verlieben sich in Rosemarie, in ihre Töchter. Gegenüber ziehen sie die Gardinen dichter zu.

Rosemarie kann nicht werden wie die Nachbarn, ein Nachbarnleben leben, konnte es nie, wird es nie können. In der niederträchtigsten Zeit nimmt ihre Mutter sie mit zu einer Wahl, an einem SS-Mann müssen sie vorbei, sollen den rechten Arm zum Gruß strecken, die Mutter hält den ihren fest, ein Unfall, sagt sie, unmöglich ihn zu heben, der SS-Mann versteht nicht, schaut nur bedauernd, für immer wird sich Rose diese Episode merken.

Die Schule, auf die sie geht, ist eine Reformschule, Jungen und Mädchen lernen gemeinsam, ohne starren Lehrplan, auch draußen, in der Natur.

Nackt geht Rose baden, auch im Alter noch, jeden Morgen, läuft barfuß zu den Bäumen und Blumen, schreibt ein Buch, das „Waldbuch“, hört die Lieder von Jacques Brel und liebt, glücklich, glühend, versucht Verse zu finden.

mit dir / habe ich / sterne gegessen / wenn wir uns liebten / in langen nächten. / die milch des mondes / aus fenstergläsern / verschüttet / machte uns trunken.

Schmerzliche Verse auch:

ich mache mir / einen Knoten / ins herz / nicht zu vergessen / dich zu vergessen.

Sie schreibt für Zeitungen, den Rundfunk, das Fernsehen. Veröffentlicht einige Gedichte in Anthologien, bei Alfred Döblin und Peter Huchel. Mietet in den Sommern ein Häuschen in Worpswede.

Geld? Manchmal gibt es welches, manchmal nicht. Sie ist Mitglied des Schriftstellerverbandes. Sucht Verlage. Scheitert. Notiert: Mein materieller Drahtseilakt bestand aus Arbeiten als Gasfrau, Putzfrau, ... , Schließerin an der Freien Volksbühne. In meiner großen mürben Schublade liegen Lyrikbände, Prosa-Manuskripte, ... Es gibt keine Erfolgsleiter, keine Karrieren, keinen Wohlstand und keinen Ehrgeiz, aber es gibt viel Freude am Leben.

Und: Ich renne los, halte es nicht mehr aus. Ich muss zu meinen Nachbarinnen, ihnen alles erzählen. Die neuen Nachbarn sind die Kinder der alten. Sie sind herübergekommen, von der bürgerlichen Seite auf die einfache. Sitzen zusammen, feiern, helfen einander. Rose sitzt unter ihnen. Trinkt ein Glas Rotwein, zwei, einen Schnaps im Kummer, erzählt, auch viele Witze, steckt ihnen Fünfzeiler auf kleinen Zetteln in die Briefkästen, liest ihre Gedichte vor, lädt sie ein zu Lesungen, organisiert von der neuen Verlegerin, so gut kann sie lesen, so schön ist ihre Stimme, sagen die Nachbarn. Sie fährt in die Paris-Bar, die Galerie Bremer, immer mit dem Taxi, den dunklen Haaren, den roten Lippen. Nie ist sie geworden wie ihre Nachbarn. Ihre Nachbarn jedoch ein wenig wie sie.

Die Gedichte und Prosastücke von Rosemarie Strebe erscheinen im Aphaia Verlag, Berlin. Tatjana Wulfert

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