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Berlin: Rücktritt ausgeschlossen

Auf dem Trekkingrad beim Radrennen? Unmöglich. Unser Autor hat es dennoch gewagt.

Für die einen ist es die längste Verkehrsbehinderung der Welt, für andere aber ein Highlight im Kalender. Warum also nicht zu denen gehören – und beim Velothon mitfahren, statt hinter der Absperrung im Stau zu stehen? Oder ist man als Tourenradler mit Sinn für Panoramen falsch bei diesem Event, bei dem nicht der Weg das Ziel ist, sondern nur die Zeit zählt?

Das erste Indiz, das in Gestalt eines Konkurrenten morgens in die S-Bahn stadteinwärts steigt, macht wenig Mut: Ein drahtiger Rentner, dessen Dress optisch zu seinem grün-weißen Renner passt, schaut demonstrativ hinweg über mein Trekkingrad, das anlässlich dieser Premiere auf nie dagewesene fünf Bar Reifendruck aufgepumpt ist.

Später, als der Pulk langsam die Ebertstraße entlang zum Start rollt, ist die Stimmung freundlich. Aber auch angespannt: Man plaudert nicht, sondern spricht ernst über die Befestigung der Startnummern am Trikot oder den korrekten Sitz des Transponders, der am Lenker festgezurrt wird und über Sensormatten auf der Fahrbahn die Start- und Zielzeit meldet. Viele sind als Paare oder Teams da; den Trikotbeschriftungen nach scheinen Radrennen vor allem ein Sport für Anwälte und Steuerberater zu sein. Immerhin sind zwischen den Hightech-Schockern einige mit Alltagsrädern am Start. Manche tragen sogar Wampe – zumindest hier im Starterfeld für die 60 Kilometer. Die wahren Helden, die 120 Kilometer fahren, sind erst eine gute Stunde später dran.

Gemessen am Adrenalinpegel ist der Start verhalten: Kein rauchender Colt, sondern nur der vorandrängende Pulk. Wie Honig in heißem Wasser wird die Masse erst zäh, dann flüssig.

Zwischen den Hochhäusern am Potsdamer Platz flutscht sie schon fast mit Tempo 30 über die Startlinie. Die Zeit läuft, ein bisher unbekannter Ehrgeiz meldet sich. 23 Stundenkilometer sind das Minimum für die gesamte Strecke. Das ist flottes Tourentempo. Sonst droht die Schmach des Besenwagens.

Diese Gefahr scheint rasch gebannt: Offenbar erzeugt die Menge der Fahrer auch jenseits des Windschattens einen günstigen Luftzug. Der reißt allerdings ab, als in Charlottenburg die Autobahn überquert ist und der Spandauer Damm erstaunlich stark ansteigt. Tempo 18 – bei Vollgas. Immerhin schnaufen die anderen auch. Und schnaufen tut gut an diesem Morgen, denn mangels Autos ist die Luft spürbar frischer als sonst. Erst recht an der Havelchaussee: Die zehn hügeligen Kilometer Grunewald mit Vogelgezwitscher sind selbst beim Kampf gegen Schwerkraft und Uhr ein Genuss.

In Dahlem kommt Gegenwind auf – und plötzlich werden die Knie etwas weicher. Vielleicht war die erste Hälfte der Tour zu schnell. Gut, dass hin und wieder ein Passant – oder meistens eine Passantin – mit Rassel oder Fanmeilenausrüstung am Straßenrand steht. Das ist wie Homöopathie: erstaunlich, aber es wirkt.

Ein Krankenwagen und ungeduldige Fußgänger an Kreuzungen lassen ahnen, dass ein Radrennen quer durch die Stadt gefährlicher ist, als es sich für alle Beteiligten anfühlt. Hier klappern eben keine Schutzbleche, sondern gut geölte Maschinen zischen fast lautlos über freie Strecke. Diese Freiheit ist das Schönste: Ampel rot am Alex? Macht nichts. Einfach weiter, an der Siegessäule vorbei auf die Zielgerade, auf der dank des Transponders der Sprecher die Ankömmlinge namentlich begrüßt. 2:14:25 zeigt die Stoppuhr am Ende. Macht einen Schnitt von 27,7 km/h. Eigentlich völlig egal. Hauptsache, es fühlt sich gut an. Stefan Jacobs

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