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Berlin: Ruhestand: Immer eine Tasche voll Nachrichten

Da hatte sie ausnahmsweise mal nicht aufgepasst, in jener bitterkalten Winternacht vor einigen Jahren. Hildegard Kosowicz radelte wie immer mit zwei riesigen Taschen voller Zeitungen durch die Britzer Kolonien.

Da hatte sie ausnahmsweise mal nicht aufgepasst, in jener bitterkalten Winternacht vor einigen Jahren. Hildegard Kosowicz radelte wie immer mit zwei riesigen Taschen voller Zeitungen durch die Britzer Kolonien. Doch sie übersah, dass der holprige Weg spiegelglatt war - und stürzte. Begraben unter dem Rad und 200 Zeitungen rief die Botin um Hilfe. Es dauerte eine Weile, bis eine Frau herbeieilte und versprach, den Notarzt zu rufen. Hildegard Kosowicz hatte aber nur eines im Sinn - die Pflicht: "Hier, nehmen Sie Ihre Zeitung gleich mit", rief sie mit zittriger Stimme. Für die heute 87-Jährige war das Zeitungsaustragen eben mehr als ein Job. Am 1. August 1957 steckte sie zum ersten Mal den Tagesspiegel und andere Zeitungen in die Briefkästen. Und erst jetzt trat die fidele Frau mit den glänzenden, blauen Augen in den Ruhestand.

Zu Hildegard Kosowicz Gebiet gehörten die Britzer Kolonien und die Straßen drumherum, bis hoch zum Britzer Garten. Sie selbst lebt seit 1947 in einem kleinen Häuschen in der Kolonie Ostelbien. Dort hat sie ihre drei Kinder allein großgezogen, ihr Mann ging 1939 in den Krieg und gilt seither als vermisst. In den schweren Nachkriegs-Zeiten schlug sich Hildegard Kosowicz zunächst als Markt-Verkäuferin durch. Eines Tages fragte eine Nachbarin: "Hilde, können Sie mir mal aushelfen mit den Zeitungen?". Diese war begeistert: "Einmalig, die frische Luft, und die Stille nachts."

Jeden Morgen stand Hildegard Kosowicz um 2 Uhr auf, spätestens um 3 Uhr saß sie auf ihrem grünen Fahrrad, lud 200 bis 400 Zeitungen auf und begann ihre Tour. Um 6 Uhr hatte sie Feierabend. Dann frühstückte sie und legte sich nochmal zwei Stunden hin. Ihre Kunden - so nennt sie die Abonnenten - bekamen nie nasse oder zerknülllte Zeitungen. "Allen habe ich die Plastikrollen angedreht, in die man die Zeitungen so gut stecken kann, damit sie geschont werden", sagt die alte Dame augenzwinkernd. Häufig hat sie ihr Schäferhund begleitet, der sie beschützen sollte. "In letzter Zeit schwächelte der ein wenig." Aber Angst habe sie sowieso nie gehabt. Die Kinder, Enkel- und Urenkel sorgten sich dafür umso mehr. "Nachts, wenn es draußen stürmte oder schneite, hatten wir Herzklopfen", sagt ihre 65-jährige Tochter.

Nach so vielen Jahren des Frühaufstehens fällt das Umgewöhnen schwer: Pünktlich um 2 Uhr wacht Hildegard Kosowicz Uhr auf. Wenn sie dann nicht wieder einschlafen kann, spielt sie Skat am Computer - eine hervorragende Vorbereitung für die Freitagabende, an denen sie sich regelmäßig zum Reizen und Drücken im Kolonie-Club "Grün / Rot" trifft. In der Vitrine funkelt sogar ein Pokal, den sie bei einem der Skat-Turniere gewonnen hat.

Jetzt, da Hildegard Kosowicz "richtige" Rentnerin ist, kann sie sich noch viel mehr um ihren prächtigen Garten kümmern und öfter in den Swimming-Pool steigen, den sie im Sommer jeden Tag eigenhändig mit einem Sauger reinigt. Das tröstet sie aber nur ein wenig, denn sie wäre liebend gern Botin geblieben. "Bei meiner letzten Tour habe ich ununterbrochen geweint", gesteht sie. Mit fast 88 wurden ihr, die doch so gut wie nie krank war, die Fahrten doch zu beschwerlich. Dabei hätte sie sich gewünscht, so lange weiter zu arbeiten, bis sie tot vom Rad fällt. Einen schöneren Abschied gibt es nicht, findet sie.

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