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Berlin: Ruinen plündern und für Onkel Rudi Kippen sammeln - Heinrich Frickel kam 1945 als Siebenjähriger nach Berlin

Wenn sich ein Jahrhundert neigt, haben Erinnerungen Konjunktur. Oft berichten nur die "Profis" der Geschichte: Wissenschaftler, Künstler oder Generäle.

Wenn sich ein Jahrhundert neigt, haben Erinnerungen Konjunktur. Oft berichten nur die "Profis" der Geschichte: Wissenschaftler, Künstler oder Generäle. In der Tagesspiegel-Serie "Mein Jahrhundert" dagegen kommen Berliner und Berlinerinnen zu Wort, die aus der sonst üblichen Memoiren-Perspektive häufig nur am Rande registriert werden, in deren Erlebnissen sich aber die "große Geschichte" spiegelt. Kurz, es werden Momente geschildert, in denen sich Welt- und Alltagsgeschichte kreuzten.

Viele Gesprächspartner hat uns die Berliner "Zeitzeugenbörse" vermittelt, die diese Alltagserfahrungen früherer Jahre dokumentiert. Die "Zeitzeugenbörse" sucht neue Mitstreitern - wer Interessantes erlebt hat, kann sich unter der Rufnummer 44 04 63 78 melden.

Ich war sieben Jahre alt, als ich Ende Mai 1945 mit meinen Eltern nach der Flucht aus Prag in Berlin ankam. Mein Vater war im sogenannten "Protektorat Böhmen und Mähren" als Einrichter von Krankenhäusern tätig gewesen. Tschechische Freunde warnten uns. Wir sollten das Land rechtzeitig verlassen. Von unserer abenteuerlichen Flucht ist mir am deutlichsten die Reise von Dresden nach Berlin in einem offenen Güterwagen im Gedächtnis. "Unser" Waggon war halbhoch mit teilweise vergammelten Kartoffeln gefüllt, die fürchterlich stanken. Wir waren direkt hinter der Lokomotive. Sie wurde mit Braunkohle betrieben, und glühende Funken stoben aus dem Schornstein. Auf unserem Leiterwagen, den wir auf der Flucht mit uns zogen, hatten wir alte Stepp-Bettdecken. Die breiteten meine Eltern über unsere Köpfe. Sie wurden von oben ganz versengt und waren später nicht mehr zu gebrauchen.

Ankunft in Königs Wusterhausen

Auf dem Güterbahnhof in Königs Wusterhausen mussten wir aufpassen, dass uns von dem Wenigen, was wir noch hatten, nichts gestohlen wurde. Wir kamen irgendwie aus diesem Gewirr von Eisenbahnwaggons und Gleisen, aus diesem Gewusel von Flüchtlingen heraus. Wenigstens wussten wir, wohin die Reise ging: Zu meiner Großmutter nach Tempelhof. Dort war ich schon als ganz kleiner Junge mit meinen Eltern von Breslau aus hingefahren. Ich konnte mich an "Omeli", meinen körperbehinderten Onkel Rudi, mit dem sie zusammenlebte, und vor allem an meine Spielecke hinter der Wohnzimmertür erinnern.

Meine Eltern hatten schon während der Flucht immer wieder gesagt: "Hoffentlich steht das Haus noch." Als wir mit unserem Leiterwagen an die Ecke Konradinstraße in Tempelhof kamen, durfte ich vorlaufen. Das vierstöckige Haus mit Omelis und Rudis Wohnung war heil, aber zwei Häuser weiter stand eine Ruine. Meine Spielecke war weg. Großmutter erklärte mir, sie hätte die Spielsachen "Flüchtlingskindern" gegeben.

Für meine neuen Freunde und mich wurde nun die Ruine nebenan zum Spielplatz: Wir suchten nach Briefmarkenalben und nach Schmuck, die auf dem Schwarzmarkt gegen Naturalien eingetauscht werden konnten. Wir rissen Dielen aus den heruntergekommenen Fußböden und brachten sie stolz als Brennholz nach Hause. Überhaupt erlebte ich das Leben im kaputten Berlin wie ein großes Abenteuer. Als Junge von sieben, acht Jahren nimmt man ja unheimlich viel hin, ohne es gleich moralisch zu bewerten. Wichtig war, was ich den Tag über zu essen bekam, ob es in der Schule warm wurde und wieviele Kilometer ich zu Fuß gehen musste, um irgendwo hinzukommen.

Uns trieb eine große Neugier durch die Straßen. Wir konnten so vieles erleben, was "nichts für Kinder war". Im Frühjahr 1946 wurden in der Gegend Leichen von gefallenen deutschen und russischen Soldaten exhumiert - wegen der Seuchengefahr. Wir versuchten immer, möglichst nahe ran zukommen. Wir starrten durch die Beine der Erwachsenen hindurch auf die Uniformen und Waffen und auch auf die Überreste der Toten. Natürlich wurden wir weggeschickt - und haben es trotzdem mitverfolgt. Es war ein bisschen gruselig, aber nicht wirklich schlimm oder traumatisierend. Wenn mich damals jemand gefragt hätte, worunter ich litte, hätte ich mich wahrscheinlich über diese langen selbstgestrickten Strümpfe beschwert. Sie wurden unter den kurzen Hosen an einem Leibchen befestigt und waren entsetzlich kratzig.

Die Berliner Jugend der Nachkriegszeit galt als "verdorben". Wir machten Stinkbomben aus Filmresten vom Ufa-Gelände in Tempelhof, die wir ankokelten und schwelend in Hausflure warfen. Wir trugen unsere "Bandenkämpfe" im Grunewald aus. Wir sprangen grundsätzlich kurz vor oder hinter der Station auf die fahrende Straßenbahn. Einfach nur an der Station ein- oder aussteigen gab es gar nicht. Aber es passierten selbstverständlich auch Sachen, die uns echt kleinlaut gemacht haben. 1946 zog ich mit meinen Eltern in eine eigene Wohnung nach Neukölln. Auf dem Hermannplatz war täglich eine verwirrte Frau anzutreffen, die Obzönitäten in die Gegend schrie und ihren Rock hob, wenn wir zurückriefen. Meine Schulfreunde und ich erfuhren eines Tages, dass diese Frau den Verstand verloren hatte, nachdem ihre beiden Söhne bei einem Bombenangriff verschüttet und getötet wurden. Da ließen wir sie in Ruhe.

Die Schwarzmarkt-Königin

Ich selber war noch zu jung, um auf dem Schwarzmarkt zu handeln. Ich ging mit meiner Mutter gelegentlich zu einer Nachbarin, die für uns so etwas wie die Schwarzmarkt-Königin war. Meine Mutter brachte die letzten Stücke ihres Schmucks oder unser gutes Besteck. Die Schwarzmarkt-Königin machte dann ihren "Kleiderschrank" auf, der vollgepackt war mit Zucker, Mehl, Milchpulver, Kaffee. Ich dachte immer: "Warum hat sie so viel, und wir haben nichts?"

Für Onkel Rudi, der ein starker Raucher war, sammelte ich Zigarettenkippen bei den Amis. Schon als sie in Tempelhof eine Pontonbrücke über den Teltowkanal bauten, war ich im Pulk der Kinder, die hinter den rauchenden Amis her waren. Manchen waren wir wohl lästig: Sie traten ihre Stummel mit einer Drehung der Schuhspitze aus, und es blieben nichts als ein paar Krümel im Dreck übrig. Diese Amerikaner fanden wir gemein. Andere aber rauchten ihre Zigaretten nur an und warfen sie uns dann direkt vor die Füße. Ich sammelte die Beute in zwei kleinen Schachteln, die ich stets bei mir trug. Ich wusste, zu Hause wartete Onkel Rudi in seinem Rollstuhl. Eines Tages erwischte mich mein Vater beim Kippensammeln und machte dieser nützlichen Tätigkeit ein Ende.

Mit meinem Vater fuhr ich zum Hamstern aufs Land. Wenn wir mittags zu den Bauern kamen, ließen sie uns so lange in der Tür stehen, bis sie aufgegessen hatten. Aber weil ich mit meinem Vater gefahren bin, war das trotzdem immer eine schöne Sache.

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