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Berlin: Ruth Martha Rasch (Geb. 1921)

Sie mochte es nicht, wenn man ihr zu nahe kam

Liefen die Enkeltöchter mit ihrer Großmutter durch die Spandauer Altstadt, schafften sie kaum fünf Meter, ohne angehalten zu werden: „Hallo, Frau Rasch!“ „Guten Tag, Frau Rasch, wie geht es Ihnen?“ So freudig die Menschen die Dame grüßten, so auffällig war es, dass niemand sie mit „Du“ anredete oder mit „Ruth“.

Duzen ließ sie sich nur von ihrer Familie. Und von Jutta und Bertie. Das waren die Nachbarn aus dem unteren Stockwerk, mit denen sie das Zahlenlegespiel „Rummikub“ spielte.

Sie mochte es nicht, wenn man ihr zu nahe kam. „Das lassen wir mal lieber“, sagte sie, als die vertrauteste ihrer Freundinnen sie mit einer Umarmung begrüßen wollte. Wurden ihre Grenzen geachtet, war sie die Liebenswürdigkeit selbst: höflich, wohlwollend, interessiert.

Die meisten ihrer Bekannten entstammten dem Kundenkreis ihres Schreibwarenladens, den sie so formvollendet führte, wie es ihrer Gesamterscheinung entsprach. Das Angebot war von ausgesuchter Qualität, die Buchhaltung stimmte auf den Pfennig, Lager und Auslage waren wohlsortiert.

Es war, als wollte sie keine Angriffsfläche bieten. Weder für persönliche Vorwürfe noch für sonstige Krisen.

Hinter ihr lag der Zweite Weltkrieg. Auch hinter Curt, ihrem Ehemann. Während Ruth Rasch im Laden das Geld verdiente, saß er ein paar Stockwerke höher in der Wohnung und hörte Radio oder las. Der gelernte Drogist war, obwohl körperlich unversehrt, Kriegsinvalide.

Mit etwas Startkapital von Ruths Mutter hatten die beiden Ende der vierziger Jahre in der Nähe des Spandauer Hafenplatzes einen Kiosk eröffnet, in dem Curt Rasch die Studienräte des gegenüberliegenden Gymnasiums bald das Fürchten lehrte. Gnadenlos artikulierte er seine Enttäuschung über die Niveaulosigkeit der Welt, erkennbar an der Wahl der Zeitungslektüre der Studierten. Auch daheim bekam er seine Launen nur schwer unter Kontrolle.

Als die Geschäfte so gut gingen, dass Ruth den Schreibwarenladen eröffnen und sich ein paar Angestellte leisten konnte, zog er sich zurück und schob einen Wall aus Büchern zwischen sich und die Welt.

Um die beiden Töchter kümmerte sich Ruths verwitwete Mutter, die bei ihnen lebte und kochte: ohne Schnittlauch, ohne Zwiebeln, ohne Knoblauch. So hatte Ruth es sich schon als kleines Mädchen gewünscht, damals, als die Welt noch heile war und sie das einzige Kind von sehr liebevollen Eltern.

Sie standen an einer Bushaltestelle, als Ruth Rasch ihrer Enkeltochter erzählte, dass sie 1945 von einer Kompanie russischer Soldaten vergewaltigt wurde. Da befand sie sich auf einem Fußmarsch aus dem sächsischen Freiberg, wo sie die letzten Kriegsjahre verbracht hatte, nach Berlin. Mit dabei waren ihre Mutter und ihre einjährige Tochter. Der Offizier, der Einhalt gebot, kam viel zu spät.

Diese Geschichte platzte aus ihr heraus, einfach so, ohne erkennbaren Anlass. Die Enkeltochter begann zu ahnen, warum ihre Großmutter den Abstand brauchte, um lieben zu können. Dass sie sich das aber bewahrt hatte, die Fähigkeit, zu lieben und zu genießen, erschien ihr plötzlich alles andere als selbstverständlich.

Die vielen Freundinnen, die auf ein Treffen drängten. Die kennerhafte Freude, mit der sie zu speisen wusste. Der wache Geist, mit dem sie den Gang der Welt verfolgte, noch als sehr alte Frau.

Auch als ihre erste Tochter mit 29 Jahren bei einem Autounfall starb, reagierte Ruth Rasch nicht mit Verbitterung. Sie stellte ein Foto der Tochter so auf, dass sie sie täglich sah, pflegte das Grab, schwieg. Einmal nur sagte sie sehr nüchtern, nichts sei so schlimm, wie das eigene Kind zu verlieren.

Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in einem Pflegeheim. Eigentlich sollte das Heim nur als Zwischenlösung für die Urlaubszeit ihrer Angehörigen dienen. Sie wurde gebrechlicher, und die Familie wollte sie nicht allein wissen. Doch Ruth Rasch beschloss zu bleiben. Sie genoss ihre neuen Freundschaften.

Ihr Bad und ihre Küche musste sie sich mit der schwierigsten Mitbewohnerin teilen, so hatte die Heimleitung es bestimmt. Sie war die Einzige, der es gelang, auch auf engstem Raum eine derart bestimmte, aber freundliche Distanz zu wahren, dass auch die Angriffslustigste es nicht wagte, sie zu attackieren.

Duzen durften sie auch hier nur Jutta und Bertie, die ihr in das Pflegeheim nachrückten.

Sie starb nach kurzer Krankheit, ohne langes Leiden. Anne Jelena Schulte

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