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Berlin: Ruth Walter (Geb. 1924)

Sie wollte nicht mehr die reiche, aber einsame Tante aus dem Westen sein.

Eine gewöhnliche Szene in der Bundesrepublik, 1975: In einer Kleinstadt lümmelt ein junger langhaariger Mann am Abendbrottisch seiner schweigenden Eltern, kaut widerwillig auf der Wurststulle herum, knurrt die Worte „Faschismus“, „Kapitalismus“, „Karl Marx“. Die Mutter erbleicht, der Vater bekommt rote Flecken im Gesicht und brüllt: „Wenn es dir hier nicht passt, dann geh doch rüber.“ Der Sohn geht natürlich nicht.

Eine ungewöhnliche Szene in der Bundesrepublik, Januar 1975. Ruth Walter sagt im Charlottenburger Rathaus zur zuständigen Dame: „Ich beantrage hiermit die Ausreise in den Osten.“ Die Dame schweigt. Und starrt. Dreht sich nach hinten und ruft: „Helga. Komm doch mal. Hier will eene in’ Osten.“

Ruth geht tatsächlich. Alles Politische ist ihr egal. Sie will zurück zu ihrer Familie. Nicht mehr allein leben, auf der anderen Seite. Mit Ilse, der Schwester, den Nichten und Neffen im großen Garten unterm Apfelbaum sitzen, lachen, streiten, trinken, nicht nur einen Abend oder zwei, immer.

Damals, im August 1961, musste Ruth sich entscheiden: Die gut bezahlte Arbeit als Stationsschwester in einer Privatklinik oder die Familie.

Sie wurde die reiche Tante aus dem Westen, die Weihnachten und an den Geburtstagen Pakete mit Lux-Seife, Perlonstrümpfen und Nivea-Creme schickte. Die Postkarten schrieb von den Reisen mit Heinz, ihrem Freund, aus Venedig, Berchtesgaden und Tirol. „Eure Madel“ stand darunter, die Leute in Bayern nannten sie so. Die ab und an rüber kam, sich mit der Verwandtschaft im Nante-Eck in Mitte traf. Ilse brachte selbst gebackenen Kuchen mit, Ruth bezahlte den Kaffee, heimlich in Westmark. Oder die zusammen mit Heinz im hellen Mercedes mit roten Ledersitzen vor dem Haus der Familie in Kleinmachnow vorfuhr, den Nachbarn, die staunend auf die Straße liefen, freundlich zunickte.

Immer, wenn Ruth zurück musste, am Grenzübergang stand, weinte sie.

Die Dame aus dem Rathaus erklärt Ruth, was zu tun ist: Papiere ausfüllen, Abmeldung bei der Bank, Geld umtauschen, eins zu eins, 30 000 West- in 30 000 Ostmark, den Möbeltransport bestellen.

Die Möbel sind verladen, der Wagen fährt los, Richtung Osten. Heinz versichert noch einmal, er komme bald nach. Sie schaut ihn an, ihr fällt ihre erste große Liebe ein, ein Musiker, der sie verließ, seine feinen Eltern wollten kein Mädchen vom Dorf.

Sie steigt in einen braunen Wartburg. Der bringt sie nach Magdeburg in ein Aufnahmelager. Dort werden ihre Koffer durchwühlt, jeden Tag finden lange Befragungen statt: Wo haben Sie gearbeitet? Was halten Sie von ihrem Chef? Welche Patienten betreuten Sie in der Klinik? Warum wollen Sie in die DDR? „Sie kennen meine Familie nicht“, antwortet Ruth einem Befrager. „Doch“ sagt der.

Ruth wartet, weiß nicht, wann sie das Aufnahmelager verlassen darf. An einem Morgen, um sieben, wird sie von einer Frau in Uniform geweckt. Die Frau führt sie durch einen Gang im Keller, weiter durch eine Schleuse auf einen Hof. Dort steht ein brauner Lada, fährt sie in eine Villa nach Potsdam, noch eine ungewisse Nacht. Am nächsten Tag überreicht ihr ein Offizier den neuen Pass: „Ich begrüße Sie herzlich als Bürgerin der DDR und teile Ihnen mit, dass Sie sich ab sofort frei in unserem Staat bewegen dürfen.“

Ruth ist zu Hause, in Kleinmachnow, Karl-Marx-Straße, bei ihrer Familie. Heinz kommt nicht nach. Sie arbeitet im Krankenhaus in Potsdam, kümmert sich um die Enkelkinder ihrer Schwester, schreibt Postkarten von der Ostsee. Sitzt unterm Apfelbaum.Tatjana Wulfert

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