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Berlin: Sabine Föhr (Geb. 1964)

Aber es gibt sehende Mütter und Väter, die sind viel blinder

Das Jahr 1987. Sie fuhren nach West- Berlin, einfach so, eine junge Frau, Anfang zwanzig und ein junger Mann, Sabine und J., ihr Freund. Zum ersten Mal sehen, was hinter der Mauer lag. Alles so schön bunt hier, hatte Nina Hagen gesagt.

Sehen? Nein, das gerade nicht, aber dafür hören, fühlen, schmecken. Und zwar so, dass es alle Farben ersetzt.

Zuerst war es nicht viel mehr gewesen als eine Schnapsidee. Wer Schnapsidee sagt, gibt der Sache wenig Chancen. Aber hier war das anders. Außerdem tranken sie Bier, nicht Schnaps, als Ingo laut träumte: Ihr könntet doch einfach mal rüberkommen. Und wenn ihr schon mal da seid, auch gleich dableiben. – Ingo war blind wie sie, aber er kam aus West-Berlin, er musste das wissen. Gewöhnlich sagt man, dass Menschen, denen plötzlich ein ganz neuer Horizont aufgeht, große Augen bekommen. Sabines Augen veränderten sich nicht, dafür fühlte sie, wie alles ganz weit wurde in ihr, tief innen.

Normalerweise war es innen eng. Und ist immer enger geworden. Sabines Freundinnen wissen gar nicht genau, aus welchem Ort in Mecklenburg sie überhaupt kam. Von sich aus hat sie nie über ihre Kindheit gesprochen. Da war auch nichts, was diesen Namen verdient hätte.

Die Mutter starb früh. Als Sabine fünf war, begann ihr die Welt undeutlicher zu werden, verlor Konturen und Farben. Als Sabine zwölf wurde, war sie blind. Ihre Familie gab sie ins Heim. Vielleicht fühlte sie sogar Erleichterung. Nicht mehr in der Angst leben müssen, die Schritte ihres Vater oder ihres Bruders zu hören, wie sie näher kommen, immer näher, und dann griffen grobe Hände nach ihr. Nicht weg können. Ausgeliefert sein. Es wurde ihr größter Angsttraum. Nicht immer kamen Vater und Bruder darin vor. In einem brennenden Haus den Ausgang nicht finden! Vielleicht begann sie damals, die Stimmen zu hören.

Das Wort Leben ist oft ein Missverständnis. Sie war nicht der Meinung, dass sie ein Leben hatte, bevor sie J. begegnete. Und nun betrat sie mit ihm zusammen eine neue Welt. Sie kamen mit einem ganz gewöhnlichen Touristenvisum, die DDR war da großzügig: Sollen sich die Blinden ruhig die Welt anschauen! Sie waren ohnehin nur Last.

Die neue Welt roch gut, und vor allem klang sie gut. Erstaunlich viele Menschen hatten freundliche Stimmen hier, nicht nur beim Blindenverband. Sie bekamen eine Wohnung und beschlossen, von nun an ganz normale Menschen mit einem ganz normalen Leben zu sein. Ihr Sohn wurde ein Januarkind.

Wer sagt denn, dass man einen Kinderwagen schieben muss? Sabine und J. zogen ihn gewöhnlich hinter sich her. Wer sagt denn, dass Blinde die schlechteren Eltern sind, nur weil sie mehr Hilfe brauchen? Aber Sabine Föhr registrierte den Temperatursturz in den Stimmen, die sie umgaben. Fast keiner sprach es aus, aber sie hörte doch die Missbilligung heraus, als blinde Frau ein Kind bekommen zu haben.

Nur was sollte sie von der Stimme halten, die sie 1999 im Park an der Kirche ansprach, wo sie immer mit Iris, ihrer schwarzen Labradorhündin spazieren ging? Ob sie nicht Lust habe, Step zu tanzen? – War das Hohn? Wer wollte sich da über sie lustig machen?

Andere lesen in Gesichtern, Sabine Föhr las Stimmen. Die schlimmsten kamen nicht einmal von außen, die wohnten in ihr. Aggressive Stimmen waren darunter, auch eine, die ganz laut schwieg, oder falsch lockende Stimmen. Wahrscheinlich kamen sie alle noch aus ihrer Kindheit und warteten auf einen Augenblick der Schwäche, Sabine zu überwältigen. Meist fuhr sie dann mit einem „Jetzt ist aber Ruhe hier!“ dazwischen, und sie verstummten tatsächlich, aber immer schaffte sie das nicht.

Der Umgang mit Außenstimmen war gewöhnlich einfacher, und die Parkstimme sprach immer weiter. Sie meinte es offenbar ernst mit dem Steptanz. Sabine Föhr kannte sie schon. Die Stimminhaberin und sie kauften im selben Gemüseladen ein, und einen Hund hatte die andere auch, Zara, einen zur Dominanz neigenden französischen Hütehund, der auf ihre Iris losging, sobald sie sich begegneten, wofür sich die Dame mit Hund dann regelmäßig entschuldigte. Aber jetzt entschuldigte sie sich nicht. Die Tanzschule „Atelier de la Danse“ sei gleich um die Ecke, sie gebe regelmäßig Kurse dort, und sie wisse nicht, warum Blindheit ein Grund sein sollte, nicht tanzen zu lernen. Ganz im Gegenteil. Das Tanzen befreit den Menschen vom Geist der Schwere, wusste schon Kirchenvater Augustinus. Und haben das nicht auch Nichtsehende nötig, gerade sie? Die Haltung gefiel Sabine Föhr.

Sie würde noch beweisen, dass Blindheit kein Grund ist, nicht auf einem Pferderücken zu sitzen. Oder wandern zu gehen. Ihre innerstädtische Spaziergängergruppe ließ sich im Gegensatz zu gewöhnlichen Wandervereinen weder von Regen, Schnee oder Sturm irritieren: Das Wetter ist nichts, der Wille ist alles!

Und weil das so ist, beschloss sie schließlich auch, am anderen Ende der Stadt kellnern zu gehen. Allerdings besaß sie im „Nocti Vagus“ starke Orientierungsvorteile, denn es handelt sich um Berlins erstes Dunkelrestaurant, eine vordere Adresse der Erlebnisgastronomie, laut Eigenwerbung „Ihr Tor in eine andere Welt“. Für Sabine Föhr war es die einzig vertraute.

Aber öffnete sich nicht auch vor ihr gerade ein Tor in eine andere Welt? Keine Frage, natürlich wollte sie steppen lernen.

War es wie noch einmal gehen lernen? Sie betraten beide Neuland, Lehrerin und Schülerin. Die eine konnte nicht mehr wie gewöhnlich mit „Schaut mal alle her, Mädels!“ beginnen, und Sabine Föhr musste sich daran gewöhnen, angefasst zu werden. Vielleicht gibt es keine berührungsscheueren Menschen als Blinde wie sie, schon weil ihnen Vertrauen und die Vorprüfung des Auges fehlt. Sie hatte der Stimme vertraut, die sie hörte, warum sollte sie nicht dem dazugehörigen Körper vertrauen? Und dann fühlten sie und ihre blinden Mittänzerinnen, wie die Bewegung in sie überging. Sie gaben ihr gewohntes Gleichgewicht auf, um es immer wieder neu zu finden. Tanzen ist nichts anderes. Dafür begrüßte Sabine Föhr ihre Tanzlehrerin – hauptberuflich Architektin, also ein Mensch mit professionell ausgebildetem Sinn für Statik und Balancen, ob nun bei Häusern oder Menschen – meist mit Komplimenten, etwa: „Siehst du aber heute wieder lädiert aus!“ Ihr Lachenkönnen hat sie gerettet, auch vor sich selbst, glaubt Isabel Thelen.

Zwei Hündinnen wachten jedes Mal skeptisch über die Szenerie, bevor sich Iris zum Mitmachen entschloss und begann, den Hinterpfoten-Step zu tanzen. Wahrscheinlich war es reines Verantwortungsgefühl, schließlich war sie für Sabine Föhrs Gleichgewicht und Orientierung zuständig. Es geschah selten, aber es geschah, dass sie sich plötzlich verloren ging im Raum, irgendwo in Berlin; dann wusste ihre Hündin, dass jetzt alles von ihr abhing. Und Iris lotste die Willenlose in die U-Bahn, stieg mit ihr um, um schließlich mit ihr vor der Wohnungstür zu stehen, als sei nichts gewesen.

Natürlich hätte ihr Sohn lieber Eltern gehabt wie die anderen, also vor allem solche, mit denen man nicht weiter auffällt. Aber es gibt sehende Mütter und Väter, die sind viel blinder, das wusste er irgendwann. Auch hätte er kaum so früh und so gut kochen gelernt. Er kochte gern für seine Mutter.

Und nun nie mehr. Eine Nacht lang warteten er und sein Freund vergeblich auf ihre Mütter. Die hatten sich 1988 auf der Entbindungsstation kennengelernt, fast gleichzeitig ihre Söhne bekommen und sich gegenseitig zu Patentanten ernannt. Sabine Föhr und Uta wollten aus der Stadt hinaus, in einen weit offenen, fast sommerlichen Tag hinein. Autobahnauffahrt, vor ihnen ein Tanklastzug. Er passte nicht in diesen Tag, zu schwerfällig, zu grau, an dem wollten sie noch vorbei. So ungefähr, bloß viel nüchterner, hat es nachher die Polizei erklärt. Nur noch über die DNA konnten die Toten in dem völlig ausgebrannten Wagen identifiziert werden. Sabine Föhrs größter Angsttraum ist wahr geworden.

Am Ersten Advent wird ihre Tanzgruppe wie jedes Jahr in der Hermann-Ehlers-Schule auftreten. Warum mache ich das? Habe ich das nötig? Ich habe es nicht nötig! Ich kündige! – Jedes Mal dieselbe Panik vor dem Auftritt. Und jedes Mal die Freude, das große Glück danach.

Sie werden sich als Bayern verkleiden und Sabine Föhrs Lieblingstanz aufführen, einen Schuhplattler. „O Mensch, lerne tanzen“, sagte Augustinus, „sonst wissen die Engel im Himmel mit dir nichts anzufangen.“ Kerstin Decker

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