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Berlin: "Sachphotographie": Von Maschinenhallen zu Shopping-Fabriken

Eine vergangene Zeit ist wie ein Spiegel, der immer nur die Züge dessen wiedergibt, der hineinblickt. Das gilt auch für den Blick auf zwei Unternehmen, die symptomatisch waren für den wirtschaftlichen Gründerboom des deutschen Reiches.

Eine vergangene Zeit ist wie ein Spiegel, der immer nur die Züge dessen wiedergibt, der hineinblickt. Das gilt auch für den Blick auf zwei Unternehmen, die symptomatisch waren für den wirtschaftlichen Gründerboom des deutschen Reiches. Beide gelten als Inkunabeln der deutschen, zumal der Berliner Technik- und Industriegeschichte; und beide existieren heute nicht mehr. Dabei ist nicht ohne Ironie, dass Borsig 1931 in der AEG aufging, wie diese dann 1996 in der Daimler-Benz-AG.

Der Berliner Unternehmer Emil Rathenau (1838-1915) erkannte frühzeitig die Zukunftschancen der Elektrotechnik. 1881 erwarb er die Lizenz auf die von Thomas Alva Edison entwickelte elektrische Glühlampe und gründete 1883 eine Gesellschaft, aus der 1887 die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) hervorging. Das Selbstbewusstsein des rasch expandierenden Unternehmens kommt eindrucksvoll im schier unermesslichen Fotoarchiv des Firmengründers zum Ausdruck. Aus einem Fundus von 15 000 großformatigen Glasplattennegativen, die zwischen 1898 und 1929 entstanden sind, hat Kerstin Lange vom Deutschen Technikmuseum versucht, eine repräsentative Auswahl zu treffen.

Es handelt sich um "Sachphotographie". Die Bilder - von durchweg beeindruckender Tiefenschärfe - zeigen Abläufe, Situationen, Werkzeuge und Materialen, die mitunter vielschichtig komponiert sind. Die neuen Fertigungsmethoden der AEG, die dem amerikanischen Vorbild folgten, waren in Deutschland geradezu revolutionär. Die Fabrikarbeit wurde rationalisiert. Ordnung und Überschaubarkeit charakterisierten die Fertigungshallen. Die zumeist angelernten Arbeiter und Arbeiterinnen standen oder saßen in Reih und Glied an ihren Arbeitsplätzen, Akkordlohn trieb zu Schnelligkeit und unermüdlicher Anstrengung an.

Die Bilder zeugen von der Nüchternheit und dem Pathos dieser Epoche. Ihre Motive sind zu thematischen Gruppen geordnet: Die Gebäude der Maschinenfabrik Brunnenstraße, die Produktpalette der AEG, Menschen am Arbeitsplatz, die Organisation des Warenversands, Lehrlingsausbildung, Wohlfahrtseinrichtungen, aber auch Erinnerungsfotos wie das Bild der im Sonnenlicht glänzenden Gesichter jener Werksmitarbeiter, die sich im Erholungsheim Falkensee auf Liegestühlen räkeln.

Die Menschen wirken eher geborgen als fremd in ihrer "industriellen" Umgebung. Der gestrenge Portier, der sich, uniformiert und sichtlich stolz, in Positur stellt, die junge Arbeiterin, die einen stählernen Plattformwagen mit müheloser Eleganz chauffiert, eine Schar Schulkinder, die in Transportkörbe verpackte Granaten schleppen; und daneben die monumentalen Straßenfronten des Werkes in der Voltastraße, gigantische Kistenstapel, wie erstarrt in quasi jahreszeitfreier Landschaft: Die Bilder verströmen die Atmosphäre eines Lebens in den Zyklen der Produktion, die nicht gänzlich anders erscheinen als die der Natur. Nichts ist zu sehen von den Entfremdungen der Moderne.

Allerdings liegt in den Aufnahmen auch die Erfahrung von Verlust - des Wissens, dass solch greifbare Produktionszusammenhänge unwiederbringlich der Vergangenheit angehören. Dies ist keine Fotographie des großen Formats und der enormen Bildmächtigkeit, sondern der verhaltenen, leisen Positionen. Besonders die frühen Aufnahmen lassen ihre Motive erstrahlen, ohne beredt zu sein. Im Gegenteil behaupten sie die Würde des Daseins, indem sie die Menschen und ihre Umgebung mit einer Selbstverständlichkeit wiedergeben, wie man sie aus mancher Amateurknipserei kennt. Doch selten nur steht der Mensch im Mittelpunkt einer AEG-Fotografie. Auch experimentelle Komponenten gibt es nur vereinzelt: Etwa jenes Stillleben, das Rotkohlköpfe in einen Vorratskeller zeigt - eine eigentümliche Dominanz des Formalen. Oder jene Dynamik, die eine Automobilspritze evoziert, indem aus vier Schlauchleitungen ein hochaufschießender Dom aus Wassertropfen gebildet wird. Ingesamt ein so erhellendes wie ansprechendes Bilderbuch.

Anders der zweite Band, der eine heutige Nutzung und eine zeitgemäße Architektur im und am Gefüge des Gestrigen preist. August Borsig gründete am 20. Dezember 1836 seine Firma in Berlin-Tempelhof; und bereits 1875 galt Borsig neben Baldwin in den USA zu den größten Lokomotivfabriken der Welt. Die wirtschaftliche Expansion des Unternehmens nötigte auch zu einem neuen Standort: Zur Jahrhundertwende geht das neue Werk in Berlin-Tegel in Betrieb. Und dort hat es dann ein 51 Hektar großes Industrieareal um einen markanten Turm des Architekten Eugen Schmohl hinterlassen, welches im letzten Jahrzehnt einen fundamentalen Umbau erfuhr. Dass neue Konzepte für alte Bauten schwer zu finden sind, ist ein Allgemeinplatz. Investoren entwickeln in der Regel nicht allzuviel Phantasie; zumeist wollen sie Läden oder Kinos dort unterbringen, wo das Proletariat einst Eisenträger zu Lokomotiven zusammenschraubte. Diesem Grundschema entsprechend legte im Frühjahr 1993 die Immobilientochter von Herlitz AG ein Konzept zur integrierten Entwicklung des Geländes vor, das eine abgestimmte Mischnutzung vorsah. Mit der Denkmalschutzbehörde wurden Planungsvorgaben für jedes einzelne historische Gebäude erarbeitet und Mindestanforderungen festgelegt, so dass ein Kompromiss zwischen den Anforderungen für die Erhaltung des geschützten Gebäudekerns und der beabsichtigten neuen Nutzung erzielt werden konnte. Das Ergebnis seien maßgeschneiderte Lösungen für spezifische bauliche Situationen, wobei der Investorenchef Manfred Birk vier Typen unterscheidet: Die Erhaltung des Gebäudes wie beim Borsigturm, die Verschmelzung eines Teil des Gebäudes mit einem Neubau, die Integration eines Fassadendetails als "Abziehbild" in einen Neubau sowie die Orientierung der Bebauung an historischen Maßstäben.

Der renommierte französische Architekt Claude Vasconi schuf mit den neuen Hallen, eine Art Shopping-Mall, ein zweites, komplementäres Leuchtzeichen zum historischen Borsigturm. Der Informationsgehalt dieses Buches ist nicht gering. Doch den Eindruck des gegenseitigen Sich-auf-die-Schulter-Klopfens wird man bei den zu Wort kommenden Bauherren, Projektentwicklern und Denkmalschützern nicht recht los.

Robert Kaltenbrunner

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