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Aktion in Friedrichshain- Kreuzberg: Die Schrottbestatter

Sie stehen an Laternen, Zäunen und an jeder Ecke: Tausende abgewrackte Räder verunstalten die Stadt. Eine Kreuzberger Initiative befreit die Straßen von den rostigen Rädern – und möbelt sie wieder auf. Die Initiative Agens e.V. macht ebenfalls am 15. September bei der Tagesspiegel-Aktion „Saubere Sache“ mit.

Die Initiative „Agens e.V.“ macht ebenfalls am 15. September bei der Tagesspiegel-Aktion „Saubere Sache“ mit. Von 10 bis 14 Uhr werden Schrotträder eingesammelt. Treffpunkt für freiwillige Helfer ist in der Wiener Straße 10. Weitere Informationen zu der Initiative erhalten Sie unter werkstatt-kreuz@agens-berlin.de. Sie wollen mitmachen, aber an anderer Stelle aktiv werden? Hier können Sie Ihre eigene "Saubere Sache"-Aktion anmelden und mit dem Tagesspiegel in Kontakt treten.

Eingriff am Skelett. Oguz Yagci (links) und Jürgen Padberg von der Initiative Agens e.V. verrichten täglich ihre chirurgische Arbeit: Sie entfernen Schrottfahrräder von Laternenmasten – wie hier in der Dresdener Straße in Kreuzberg.
Eingriff am Skelett. Oguz Yagci (links) und Jürgen Padberg von der Initiative Agens e.V. verrichten täglich ihre chirurgische Arbeit: Sie entfernen Schrottfahrräder von Laternenmasten – wie hier in der Dresdener Straße in Kreuzberg.

© Mike Wolff

Oguz Yagci hat es nicht eilig an diesem schwülen Vormittag. Das einzige, was er erledigen muss, ist ein Spaziergang um die Ecke in die Dresdener Straße 128 in Kreuzberg. Er ist dort verabredet – mit einem Damenfahrrad. Marke: Ragazzi. Farbe: dunkelgrün. Besondere Merkmale: 26 Zoll Rahmen und zugemüllter Korb. Der 46-Jährige, geboren in Ankara, trägt Jeans, ein blaugestreiftes Hemd und graue Chucks. Mit seinen langen schwarzen Haaren und dem Fünftagebart sieht er eher aus wie ein Soziologiestudent und nicht wie ein Fahrradschrauber. Keine Kettenschmiere an den Händen, kein Schweiß auf der Stirn, kein Blaumann. Oguz Yagci leitet die Werkstatt des „Agens e.V.“, sie möbeln Fahrräder wieder auf.

Yagci bricht zusammen mit Patti auf. Patti, 43, heißt eigentlich Jürgen Padberg, aber nur seine Eltern würden ihn so nennen, sagt er. Er ist ziemlich dünn, seine Augen mit Kajal umrandet, darüber eine schwarze Hornbrille. In den Bollerwagen schmeißt er einen Rucksack mit Werkzeug: Bolzenschneider, Trennscheibe, eine Zange und eine Metallstange – was man eben so braucht, um ein Schrottfahrrad loszueisen. Manchmal fragten ihn Passanten, was er denn da tue. Und auch die Polizei hat ihn anfangs skeptisch beäugt. Mittlerweile kennen sie ihn. „Wir sind offizielle Fahrraddiebe“, sagt er. Sie arbeiten zusammen mit dem Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg.

In ganz Berlin wimmelt es nur so vor Schrottleichen, die unbemerkt an Laternenpfählen oder Bäumen vor sich hin rosten und in ihre Einzelteile zerfallen. Oft sind die Räder abmontiert, die Bremsen kaputt, die Sattel geklaut. Sie blockieren Fahrradständer oder Gehwege. Jedes Jahr fallen tausende Räder an, die meisten in Kreuzberg, Friedrichshain, Neukölln, Prenzlauer Berg. Da, wo die meisten Radfahrer unterwegs sind.

Die Männer von Agens e.V. sind so etwas wie Pathologen. Sie kümmern sich um die Metallskelette auf dem Friedhof der Fahrradleichen. Und manchmal hauchen sie ihnen auch wieder neues Leben ein. Die Ordnungsämter sind dagegen die Bestatter der Fahrradleichen. Fällt ihnen ein Rad auf, prüfen sie, ob es gestohlen worden ist. Falls nicht, kleben sie einen gelben Aufkleber drauf. 14 Tage hat der Besitzer dann Zeit, sein Rad abzuholen. Passiert das nicht, verzichtet er auf sein Eigentum und das Rad wandert entweder ins Fundbüro, in die Schrottpresse – oder die Männer von Agens rücken nach einem Hinweis vom Amt mit ihrem Bollerwagen an.

Bis zu zwanzig Fahrradleichen reparieren sie im Monat, erzählt Yagci. Sie machten das gründlich, eine normale Werkstatt könnte sich das gar nicht leisten. Die meisten sind Ein-Euro-Jobber und seit Jahren arbeitslos. Die Räder bekommen Bedürftige und Hartz-Empfänger als Spende, Menschen, die sich sonst kein Rad leisten könnten.

Das Damenrad in der Dresdener Straße lehnt vergessen an einem Fahrradständer. Fahren kann damit niemand mehr. Funken fliegen, als Patti das Bügelschloss mit einer Trennscheibe durchsägt. Es riecht nach Metall. Nach ein paar Sekunden ist das Schloss durchtrennt, für einen Profi wie Patti kein Problem. Dann räumt er den Müll aus dem Korb und wuchtet das Rad gemeinsam mit Yagci in den Wagen. Die beiden zuckeln wieder zurück, am Kottbusser Tor vorbei, zum Görlitzer Park und dann in den Hinterhof in die Wiener Straße 10, in dem ihre Werkstatt liegt. Draußen vor dem Tor rauchen Männer mit dicken Bäuchen und langen Bärten.

Die beiden arbeiten sechs Stunden täglich, von 8 bis 14 Uhr. Für 1,50 Euro die Stunde, 180 Euro im Monat. Geschickt hat sie das Jobcenter. Fast alle sind Langzeitarbeitslose, so wie Patti, 40 bis 50 Jahre alt, schwer vermittelbar. Sie sollen an den ersten Arbeitsmarkt herangeführt werden. Doch ihre Chancen sind verschwindend gering, das wissen sie selbst. Jeder von ihnen könnte seine eigene Geschichte des Scheiterns erzählen, vom Kampf mit der Sucht, von Schulden, körperlichen Leiden, Depressionen.

Oguz Yagci sieht sich selbst deshalb nicht nur als Handwerker, er muss auch Pädagoge sein und Social Worker. Mit seinen 45 Mitarbeitern übt er nicht nur Reifen zu flicken, er schreibt auch Bewerbungen mit ihnen, empfiehlt ihnen einen Zahnarzt, oder, wenn er gar nicht mehr weiter weiß, einen Therapeuten.

Oben in der Werkstatt im dritten Stock ist alles fein säuberlich geordnet. An den Wänden hängen Felgen, Schläuche, Speichen und jede Menge Werkzeug. Patti faxt zuerst die Rahmennummer an die Polizei, bevor er versucht, die Felge zu zentrieren und die Acht zu beseitigen. Der Rahmen sei noch ganz brauchbar, meint Yagci. Falls sich der Besitzer innerhalb einer Woche nicht meldet, werden sie das grüne Damenrad wohl wieder auf Vordermann bringen.

Die Initiative (mehr unter werkstatt-kreuz@agens-berlin.de) macht ebenfalls am 15. September bei der Tagesspiegel-Aktion „Saubere Sache“ mit. Von 10 bis 14 Uhr werden Schrotträder eingesammelt. Treffpunkt für freiwillige Helfer ist in der Wiener Straße 10. Sie wollen mitmachen, aber an anderer Stelle aktiv werden? Hier können Sie Ihre eigene "Saubere Sache"-Aktion anmelden und mit dem Tagesspiegel in Kontakt treten.

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