zum Hauptinhalt
Die auf dem Boden eingelassene Gedenktafel für Berlins Alte Philharmonie, deren entscheidende Umbauplanung zum legendären Philharmoniker-Auftrittsort vor 125 Jahren begann, befindet sich im Hof des Hauses Bernburger Straße 21 (Kreuzberg).

© OTFW, Berlin / Wikipedia.org

Schauplatz Berlin (Auflösung 18): Die verwandelte Rollschuhbahn

Fast an jeder Ecke in Berlin hängt eine Gedenktafel, 2843 sind es insgesamt. Der Tagesspiegel bietet jede Woche ein Gedenktafel-Rätsel. Hier finden Sie, liebe Leserinnen und Leser, die Auflösung zu unserer achtzehnten Folge.

Diese quadratische Bodenplatte ist schwer zu finden. Der Hof zwischen neuen Wohnhäusern, auf dem sie an einen grandiosen Saal für die allerschönste Musik und andere Genüsse erinnert, ist eigentlich Privatterrain. Dass sich an dieser ruhigen Seitenstraße einst das Großstadtpublikum zu Tausenden für Entertainment und Hochkultur versammelte, ist heute kaum zu glauben. Nur ein hochgeschwungener postmoderner Torbogen, durch den man den Hof betritt, lässt ahnen, dass hier mal was Besonderes war.

Die Berlin-Anhaltische Eisenbahngesellschaft hatte seinerzeit, nach Errichtung ihres ersten Anhalter Bahnhofs (1841), das angrenzende Gelände weiträumig erworben, Bauland entwickelt, Parzellen verkauft und drei Straßen gebaut: die Köthener, die Dessauer, die Bernburger. An der letzteren wurde in den 1870er Jahren durch eine englische Aktiengesellschaft die offene Rollschuhbahn „Central Skating Rink“ eingerichtet, samt Restauration und Bühne. Zahlreiche Umbauten und Erweiterungen folgen..Der innere Rundlauf für Skater wird überdacht, Rauchsalons und Billardzimmer kommen hinzu. Ausstellungen, Theater, Oper gastieren. Als das beste Orchester der Stadt, die Bilsesche Kapelle, sich von ihrem Leiter trennt, entdeckt ein Agent, der diesen Klangkörper groß machen will, dafür den Vergnügungs-Ort als Spielstätte. Die Orchesterbühne liegt zunächst seitlich zum Publikum  – daneben wird schnabuliert.Unterschiedlichste Nutzungen sollen das Gebäude-Ensemble profitabel machen. Für eine Gartenbau-Schau installieren Technik-Pioniere von Siemens-Halske aus der Nachbarschaft elektrisches Licht und Generatoren; bald erhält die Anlage Bogenlampen auf Dauer. Die Rollschuhmode flaut ab 1882 ab, das Skating-Unternehmen macht Pleite, sein Geschäftsführer Ludovico Sacerdoti ersteigert den Komplex. Ein neues Eingangsgebäude wird hingestellt. Gartenwandelgänge für Ausstellungsbetrieb kommen hinzu. Adelige VIPs vom preußischen Hofe dürfen an diesem von allen Seiten mit Häuserblocks umschlossenen Ort wegen Brandgefahr nur mit Sondererlaubnis verkehren.

Vor 125 Jahren begann Franz Schwechten, der Architekt des zweiten, 1880 eröffneten, prachtvoll-monumentalen Anhalter Bahnhofs, für das populäre Mehrzweck-Areal ein weiteres Aufwertungs-Projekt. Eine erhöhte Kassettendecke mit schallschluckenden Gipsornamenten und zwei Oberlichtern wird eingebaut. Die Bühne für das Orchester wird zur Schmalseite verlegt. An den Wänden sind nun Medaillons mit Komponistenportraits angebracht. Über 2500 Plätze insgesamt verfügt der große Saal. Spitzenakustik, optimale zwei Sekunden Nachhall! Bilses ehemalige Musikanten heißen mittlerweile: Berliner Philharmoniker. Mit der Wiedereröffnung im Herbst 1888 erhält die Bernburger Straße 22a / 23 nun ihren historischen Namen: Philharmonie. Außer den Weihestunden für Klassikfans finden hier weiterhin Faschingsbälle, Vorträge, Passionsspiele, Kundenveranstaltungen statt. Kapazitätsprobleme bleiben. Zehn Jahre später wird dann schließlich noch ein Teil des Gartens für einen Oberlichtsaal und  ein Foyer überbaut; man expandiert außerdem aufs Nachbargrundstück an der Köthener Straße, dort entsteht ein weiterer, der Beethovensaal für über 1000 Besucher. Zur gelegentlichen Nutzung für Kinozwecke werden schließlich  Lichtspielprojektoren montiert. Das Sternsche Konservatorium, Berlins berühmteste Musikschule, bezieht angrenzende Wohnungen. Die Créme der Dirigenten steigert das Image der Philharmoniker und ihres Domizils. Auch kuriose Veranstaltungen finden statt, zum Beispiel 1920 eine Kundgebung gegen Einsteins Relativitätstheorie. Mit dem Tod des Besitzers, 1930, übernimmt eine Erbengemeinschaft, zu der zwei Juden gehören, die Immobilie. Nach 1933, bis zur „Arisierung“ der Philharmonie, gibt es Boykottaufrufe. Ein Bombentreffer am 29. Januar 1944 beendet die glorreiche Geschichte des legendären Musentempels.

Die nächste Folge von Schauplatz Berlin erscheint am kommenden Sonntag im gedruckten Tagesspiegel.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false