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Schauplatz BERLIN Wer?  Wo? Wann? – Das Tafelrätsel: Arithmetischer Melodien-Finder

Vierzig Jahre lang Lehrer zu sein und Berlin (so weit uns bekannt ist) in dieser Zeit kein einziges Mal zu verlassen: Das soll ihm mal einer nachmachen. Langweilig ist dem Gastwirtssohn slawischer Abstammung, der unter seinem eingedeutschten Namen Karriere macht, während dieser Jahrzehnte eher nicht geworden.

Vierzig Jahre lang Lehrer zu sein und Berlin (so weit uns bekannt ist) in dieser Zeit kein einziges Mal zu verlassen: Das soll ihm mal einer nachmachen. Langweilig ist dem Gastwirtssohn slawischer Abstammung, der unter seinem eingedeutschten Namen Karriere macht, während dieser Jahrzehnte eher nicht geworden. Er unterrichtet Musik und Arithmetik, aber ein weiterer Aspekt seiner Doppelstelle besteht im Vorsängeramt nebst Pflege des musikalischen Betriebs an einer Pfarrkirche, wo drei Gottesdienste täglich, Trauungen, Taufen, Beerdigungen zu begleiten sind, ein Knabenchor zu leiten ist. Dafür erhält er vierteljährlich zehn Taler und 165 Liter Getreide, was keine großen Sprünge erlaubt. Sogar dem Schulrektor muss das klar sein, als er in einer Laudatio auf seinen angesehenen Kollegen feststellt: Es sei schwer, mit leerem Magen Melodien zu erfinden, weshalb dem begabten Familienvater doch Mittel für ein sorgenfreies Leben zuteil werden sollten. Die erste Ehefrau, eine Bürgermeistertochter, zwei ihrer fünf Kinder und seine Mutter sterben. Eine Seuche grassiert. Bald darauf verlobt sich der mehr als 20 Jahre Ältere mit einer Wirtstochter im Teenie-Alter; von den gemeinsamen 14 Kindern müssen die Eheleute sechs begraben. Gut werden die Zeiten nicht, meistens herrscht Krieg. Doch nach zehnjähriger Schaffensblockade kommt seine Kreativität neu in Gang.

Er ist ja nicht nur Pädagoge. Von seinem Geburtskaff an der Neiße war er früh aufgebrochen: zur Lateinstunde ins nahe Städtchen, zum evangelischen Gymnasium nach Schlesien, auf eine Jesuitenschule nach Mähren, zur Musikausbildung nach Bayern – hier wird ihm Talentmangel bescheinigt. In Berlin jobbt er als Hauslehrer, bereitet sich aufs Theologiestudium in Wittenberg vor, veröffentlicht als erste Komposition zwei Trauungsmotetten, die am Ursprungsort des hiesigen Pressewesens gedruckt werden. Nach dem Studium folgt sein Lebens-Engagement an die Spree. Berühmt wird er durch Lehrbücher und Gesangbuch-Bestseller, vor allem durch traurige, fröhliche Melodien, ohne die sich Choral-Liebhaber noch heute Weihnachten kaum vorstellen möchten. Seine Gedenktafel hängt seit 50 Jahren an dem Gotteshaus, wo er sein Brot verdiente, geht dort als eine von fünfen fast unter. Rundum simulieren nachempfundene Altbauten, wie heimelig die Welt an der Wirkungsstätte des singenden Arithmetikers hätte ausschauen können: wäre seine Epoche nur gemütlich gewesen. Thomas Lackmann

Wer war’s? Finden Sie die Gedenktafel? Auflösung am Mittwoch auf www.tagesspiegel.de/schauplatz oder nächsten Sonntag hier an gleicher Stelle. Lösung der Vorwoche: Die Filmkritikerin, die nach zeitweiliger NSDAP-Mitgliedschaft durch ihren Mann Harro zur Widerstandsaktivistin wurde, war Libertas Schulze-Boysen, hingerichtet in Plötzensee vor 80 Jahren. Die Tafel für sie und ihren Mann hängt in der Altenburger Allee 19 in Westend.

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