zum Hauptinhalt
Kopf hoch.

© Theo Heimann

Berlin: Schildkrötenstreich

Weil die Tiere sehr groß und sehr alt werden, landen sie in Berliner Seen. Ihr Feind: die Kälte.

Für Jens Scharon, den Artenschutzexperten des Naturschutzbundes Deutschland (Nabu), sind sie „wohl die eifrigsten Sonnenanbeter Berlins“. Kein wolkenloser Sommertag, an dem sie sich nicht auf Steinen am Ufer räkeln. Auf umgestürzten Baumstämmen, die ins Wasser ragen. Auf Sandbänken oder schwimmenden Rindenstücken. Kopf und Beine und den kleinen Stummelschwanz so weit genießerisch herausgestreckt, wie es der Panzer zulässt. „Ja, ja“, sagt Scharon, „man sollte es nicht glauben, viele Leute sind überrascht. Aber es gibt tatsächlich in Berlin, in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern viele Wasserschildkröten.“ Keine heimischen Artgenossen allerdings, denn die Europäische Sumpfschildkröte ist nahezu ausgestorben. Die neuen gepanzerten Sonnenanbeter von Berlin, von denen es offenbar immer mehr gibt, entstammen fast alle der Familie der nordamerikanischen Schmuckschildkröten.

Genauer: Der Rotwangen- oder Gelbwangen-Schmuckschildkröten. Sie sind allerdings nicht selbst ausgewandert, sondern meist in den Aquarien professioneller Züchter geboren worden. Später strampelten sie irgendwann in den Wasserbecken von Tiergeschäften, gerade mal groß wie ein Fünf-Mark-Stück. Sie wurden meist zum Spaß der Kinder erworben, aber ein paar Jahre später dann zum Problem, als das Interesse ihrer jungen Pfleger schwand und man plötzlich bemerkte, dass Wasserschildkröten recht groß werden und zu den Methusalems im Tierreich gehören. „Die können 60 Jahre alt werden“, wissen Experten. Die Lösung? Der Gang zum nächsten Tümpel. „Sie werden ausgesetzt“, sagt der Wildtierbeauftragte des Berliner Senats, Derk Ehlert. So sind sie in die Natur geraten und haben sich vermehrt. Manche Kröte, die durch den Neuen See im Tiergarten paddelt, ist schon ein Kindeskind früherer Aquarienvorfahren.

Da in Nordamerika ähnliche Temperaturen herrschen wie hierzulande, fühlen sie sich auch in Berliner Seen, in der Havel und Spree, im Teltow- und Landwehrkanal wohl. Sie futtern gerne Insekten und Wasserpflanzen, davon gibt es mehr als genug. Sie können abtauchen, sind dank des Panzers gut gerüstet, wenn sie wie ein kleines Schubschiff ihre Bahnen ziehen, es drohen also kaum natürliche Feinde. Und sie bringen auch nicht unser Ökosystem durcheinander, sagen Naturschützer. Beste Voraussetzungen also, um die neugewonnenen Gewässer zu besetzen. Gäbe es da nicht eine alljährliche Hürde.

„Das ist der Winter“, sagt Wildtier-Fachmann Derk Ehlert. Wenn der Frost naht, buddeln sich zwar die meisten Wasserschildkröten im Schlamm am Gewässerrand ein, reduzieren Kreislauf und Atmung. Doch sackt das Thermometer weit unter die Minuslinie, droht der Kältetod. Deshalb kann man nach mehreren milden Wintern viele schwimmende Kröten beobachten. Nach starken Frostperioden tauchen sie aber seltener auf.

Freut man sich als Naturschützer über die gepanzerten Einwanderer? Na ja, da ist der Nabu-Mann hin- und hergerissen. Einerseits sind sie spannend. Andererseits mahnt Scharon: „Wer ein Tier kauft, sollte sich vorher informieren. Und es nicht später aussetzen.“Christoph Stollowsky

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false