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Warten auf Heino: Viele Schlagerfans waren extra für den blonden Barden ans Brandenburger Tor gepilgert.

© DAVIDS

Schlagerfestival am Brandenburger Tor: „Ihr müsst mehr abgehen“

Deutschland, einig Schlagerland: Am Brandenburger Tor wurde zu Heino und Co. geschunkelt – aber nur ein bisschen. Für Touristen ist das Event ein Kulturschock.

So sieht das also aus, wenn sich die Deutschen feiern. Francesca Saccio starrt zur Bühne, regungs- und fassungslos, schon seit zehn Minuten. Die Touristin aus dem italienischen Padua ist mit ihrer Familie in Berlin, Urlaub, Sightseeing, sie wollten mal sehen, wie sie begangen werden, die sich jährenden Tage der Einheit, also sind sie, Vater, Mutter, Tochter, zum Brandenburger Tor gefahren. Ins Herz der Demokratie. Und hier läuft Schlager.

Nach dem „Coke Festival of Happiness“ am 3. und dem Familienfest am 4. Oktober beendet das Goldschlagerspezial von Sat. 1 die Wiedervereinigungsparty. Man merkt dem Event den Kater der Vorgängerfeten an. Im Publikum nämlich: Nüchterne Rentnerinnen, absichtlich hier, alkoholisierte Junggesellenabschiede, versehentlich auf die Meile geraten – und die kulturgeschockten Mitglieder der Familie Saccio aus Padua. Sie sehen, wie sich Jörg-Tim Wilhelm von der Band Münchener Freiheit am Mikrofon räkelt, sie hören, wie er ins Mikrofon schmalzt: „Ein Jahr ist schnell vorüber / Wenn der Regen fällt / Ein Meer voller Fragen / Ich steh dir gegenüber.“ Demokratie, das ist halt auch das Recht auf kreative Freiheit.

Das Meer voller Fragen im Gesicht von Francesca Saccio kann Wilhelm nicht wegsingen. Sie fotografiert das Spektakel, das Bild taugt daheim bestimmt für eine gute Anekdote. Also, wir waren am Brandenburger Tor, und ich sage dir, die Deutschen... In Italien gibt es das Festa della Repubblica, das Fest der Republik, am 2. Juni. Da gibt es dann ganz viele militärische Paraden, und die Bürger dürfen den Quirinalspalast, den Amtssitz des italienischen Präsidenten, besichtigen. Schlager gibt es nicht. Eine deutsche Exklusivität. Und dann sind Schlagersänger auch noch notorische Lügner. „Berlin, wow, ihr seid ein geiles Publikum“, jubelt Wilhelm den nichtklatschenden, nichtsingenden Menschen vor der Bühne zu.

Erst am Abend drängeln sich deutlich mehr vor dem Absperrzaun, die meisten wollen zu Heino, wie Irmtraud Deckert. Sie ist extra aus Jena in Thüringen angereist. „Da habe ich das Heino-Konzert verpasst, aber hier kriege ich das sogar umsonst“, freut sie sich.

Am Nachmittag hat der Moderator von 104.6 RTL hingegen nur mäßig begeisterte Zuschauer. Als Wilhelm und seine Münchener Freiheit ihren Auftritt beenden, sagt er pflichtschuldig: „Liebe Leute, ihr müsst mehr abgehen. Wenn die Stars auf die Bühne kommen, dann die Hände in die Höhe und Applaus, alle, ja?“

Francesca Saccio klatscht, ziemlich lustig das alles, diese Deutschen, herrlich. Noch ein Foto. Und noch eins. „In Padua glaubt mir das doch sonst keiner.“ In diesem Moment stürmt, mit eingemeißeltem Grinsen und weit geöffnetem Hemd, der Schlagernewcomer Alex di Capri vor das Brandenburger Tor. „Hallo ihr Berliner, ich werde jetzt für euch Latino-Schlager singen.“ Ein Tenor aus Fulda, der iberisch angehauchte Balladen schmachtet. „Kommt ruhig nach vorne, hier ist noch ganz viel Platz, ihr seid ein Hammerpublikum!“ Di Capri wird nicht der letzte Interpret sein, der die Menge so umgarnt, später performt die selbsternannte Schlagerbarbie „Anna singt Rot“ ihren Song „Küss mich endlich.“

Saccio hat genug gesehen, sie verlässt die Meile, als Di Capri „te quiero“ ins Mikrofon haucht. Ein letzter Blick hoch. Die Quadriga macht es genauso. Sie wendet sich auch ab. Moritz Herrmann

Moritz Herrmann

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