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Berlin: Schnappschuss mit Säulenheiligen

Marx mal die Hand tätscheln, Engels mal ganz nah sein: Das Denkmal im roten Eckchen Berlins ist ein Lieblingsmotiv der Touristen.

Wo fotografieren die Touristen am meisten? Was nehmen sie mit nach Hause, um zu zeigen: ... and this is Berlin? Nicht allein das Brandenburger Tor, die Mauerreste, Goldelse, Fernsehturm oder Reichstagskuppel. Es gibt ja auch Souvenirs aus Bronze und Stein – Denkmäler, personifizierte Geschichtsfiguren, Dichter, Denker, Komponisten. Einige stehen am Rande des Tiergartens, aber bei Johann Wolfgang von Goethes Monument an der Ebertstraße ist der touristische Andrang, im Gegensatz zum Holocaust-Mahnmal gegenüber, ziemlich überschaubar. Und Heinrich Heine nahe der Neuen Wache grüßt zwar die Schönen Unter den Linden, doch die gehen mit ihren kleinen Kameras achtlos vorüber. Friedrich II. scheint für ein Familienfoto unerreichbar, Majestät reiten gewissermaßen über die Köpfe der Allgemeinheit hinweg.

Aber dann! Am Spreeufer, vor der Liebknecht-Brücke und Liebknecht-Straße, in einem kleinen Wäldchen, stehen und sitzen die Herren Karl Marx und Friedrich Engels, starren nach Westen und sind ein begehrtes begehbares Denkmal: Hintergrund für Porträtfotos als Souvenir aus dem alten Ost-Berlin, Klettergerüst, Erklärmotiv für Stadtführer, Fundament politischer Reden und Richtungen aller Art. Der Ort mit seinen beiden Berühmtheiten, die 40 Jahre lang die Säulenheiligen eines versunkenen Staates waren, wird in jedem Baedecker erklärt. Es ist spannend, wie der Metropolen-Tourismus zu diesem kleinen roten Eckchen unter ein paar stämmigen Bäumen strömt und wie es ein großes Vergnügen scheint, sich und die Seinen mit den beiden bärtigen Sozialisten-Veteranen abzulichten.

Besonders begehrt ist ein Motiv, zu dem sich die Gattin/Freundin/Geliebte zwischen die Oberschenkel vom sitzenden Marx quetscht und dabei kichernd dessen Bronze-Pranken, die schon ganz abgeschubbert sind, die Hand reicht. Friedrich Engels steht etwas ratlos (und neidisch?) daneben. Jetzt kommen sechs Italiener, nehmen die beiden in die Mitte und sind ganz hin und weg, Karla Marxa hier so erdverbunden zu begegnen. Ein Herr mittleren Alters aus Ludwigshafen möchte seinem Enkel Berlin zeigen. Während er Opa Marx und Onkel Engels fotografiert, erklettert der Zwölfjährige den Kapital-Autor über dessen Rücken und hält sich am linken Marx-Ohr fest, ein anderer Junge besteigt den linken Oberschenkel und ballt fotogen die Arbeiterfaust. Ein russischer Übersiedler, der jetzt in Spandau wohnt, antwortet auf die Frage, weshalb er hier seine Frau fotografiert: „Das ist doch eine große Geschichte!“

Peter Ramsauer, Bau- und Verkehrsminister, sieht das ganz anders und denkt wahrscheinlich, dass alle, die zu den beiden kommunistischen Manifestierern kommen, in stillem Gedenken verharren und anschließend ihre DDR zurück, zumindest aber einen Aufnahmeantrag für die Linken haben wollen. Der Bayer hat allen Ernstes vorgeschlagen, das tonnenschwere Sozi-Ensemble auf den Friedhof Friedrichsfelde zu entsorgen. Wenn er sehen würde, wie amüsant die Leute den im Volksmund Sacco und Jacketti genannten Herren begegnen, würde er die Berliner vielleicht mit einer anderen Idee beglücken. Aber vorerst bleibt das Denkmal am Rande des Forums stehen, dem goldenen Westen zugewandt.

Früher guckten die Herren nach Osten. Am 4. April 1986 war das Ensemble des 2001 verstorbenen Bildhauers Ludwig Engelhardt in einer vier Hektar großen Parkanlage eingeweiht worden, dazu Reliefs („Die Würde und Schönheit freier Menschen“) und acht Edelstahlstelen mit eingebrannten mickrigen Fotos zum weltrevolutionären Prozess seit Marx und Engels. Nirgendwo findet sich ein Schild, das den Namen Marx-Engels-Forum trägt. Dieser kleine Park an der Spree entstand, als die Kriegstrümmer der Altberliner Häuser rund um die Marienkirche abgeräumt waren. Viele empfinden die Wiese zwischen Fernsehturm und Spree als beschauliche Oase, andere möchten die Fläche wieder bebauen – wenn schon das Schloss, dann bitte noch die uralte Berliner Mitte, zurück ins Mittelalter.

Vorerst aber ist alles ein Provisorium. Im Herbst 2010 wurden die beiden bärtigen, als Denkmal geschützten Herren verrückt, die Baustelle der neuen U 5 warf ihre Schatten voraus. Jetzt ist auf der halben Fläche des Forums die Logistik für die Tunnelbaustelle untergebracht. Am Südrand entsteht die Einlassöffnung für die Schildvortriebsmaschine, diesen Riesenmaulwurf, der sich durch den märkischen Sand wühlt. Zäune verdecken das Areal, aber man wird in Wort und Bild aufgeklärt: Beim Bau der Tunnelstrecke zwischen Rathaus und Brandenburger Tor fallen 120 000 Kubikmeter Sand, Schlamm und Steine an. Mit dieser Menge ließen sich eine Million Badewannen füllen.

Der Abraum wird durch die Tunnelröhre direkt aufs Marx-Engels-Forum geleitet und über Förderbänder auf Schiffe verladen. Es staubt. Aber der Hafen auf Zeit ersetzt 12 000 Lkw-Fahrten. Und der sozialistische Realismus in Bronze bleibt mindestens bis 2019 da stehen, wo er jetzt ist. Es darf weiter geknipst werden. Lothar Heinke

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