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Berlin: Schöneberg: Schauwerte am Winterfeldtmarkt

Es klemmt ein Lauchbündel unter dem Arm, ein Salatkopf lugt vorwitzig aus einer orangen Plastiktüte. Es ist Winterfeldtmarkt, und Gemüse, das ist die Währung.

Es klemmt ein Lauchbündel unter dem Arm, ein Salatkopf lugt vorwitzig aus einer orangen Plastiktüte. Es ist Winterfeldtmarkt, und Gemüse, das ist die Währung. Mehr braucht es nicht, um in einem der Cafés als ein Marktbesucher einen Vorwand zu haben, sich sehr, sehr lange auszuruhen, umgeben von Gemüse in Tüten.

Das Gemüse ist hier Accessoire, dessen Nutzen nicht primär in seinem Verzehr liegt, sondern zusätzlich dekorativer, statuserhöhender, ja persönlichkeitsdefinierender Art ist. Es ist vergänglicher Schmuck, der jeden Samstag wieder erneuert werden muss und dessen Frische Bedingung für den Status des Käufers ist. Auf dem Winterfeldtmarkt kauft man ein, um auszusehen.

Die üppigen Blumen, ungebunden in Zeitung geschlagen, schmücken in der gleichen nachlässigen Schönheit die Trägerin wie die absichtsvoll künstlich gestruwwelte Frisur. Kein Zweifel, dass eine Frau mit einem riesigen Strauß Blumen im Arm schön ist, wenn sie zum Bild wird und die Blüten ein stellvertretendes Lächeln sind, und wenn die Frische auf ihr Gesicht abstrahlt. Beinahe zwingend erstehen Frauen riesige Bünde von Blume.

Die Menschen, und das ist das Besondere auf diesem Markt, schmückt ihr Einkauf schon in seiner Eigenschaft als Last. Die tragen sie dann in weiten Körben oder durchscheinenden Plastiktüten mit sich her, sie wimmeln in die Cafés und kümmern sich nicht mehr drum oder tun nur so und bestellen noch einmal etwas Neues. Im Zweifel lag die spezifische Aufgabe der frischen Erdbeeren, die nach langem Liegen den Abend viel zu warm unter einem Kneipentisch begehen, genau hier: im Verströmen von Duft, im Aussehen.

Aber noch etwas anderes tun diese Symbole der Frische: Sie verweisen auf den Zeitpunkt, wenn diese Früchte, exotisch oder gemein, in den Töpfen zu Gerichten werden. Die Frucht suggeriert, dass ihr Träger weiß, wie man die Knolle zu bearbeiten hat. Sie suggeriert, dass er diese erdige Knolle mit Absicht und Sinn und Verstand gekauft hat. Der unbearbeitete Gegenstand weist auf die Fähigkeit des Käufers zur Verarbeitung und wertet ihn damit auf. Eine Wechselspannung entsteht zwischen dem Pol des Käufers und dem des "zur Schau" getragenen Eingekauften. Der Käufer eines Kohlrabis gibt damit unbewusst mehr von sich preis als zum Beispiel der Käufer einer Hose, der nur noch den Reißverschluss zu schließen braucht, um sich dem Eingekauften entsprechend zu verhalten.

So weist Gemüse, und sei es noch so gemein, weiter als jedes erlesene Markenprodukt. Und nicht auf Modisches oder Allgemeines verweist es, sondern auf etwas Persönliches. Auf eine Fähigkeit - nicht nur einen Geschmack. Wer Kartoffeln mit sich führt oder Artischocken trägt, veredelt seine öffentliche Erscheinung um eine symbolisierte Fähigkeit der Person. Das sollte man wissen.

Für den Beobachter lässt ein Gemüse - unbearbeitet - folglich eine Vermutung zu. Eine Fantasie, die in der Kombination aus dem Eingekauften und den Möglichkeiten der Zubereitungskunst des beobachteten Trägers liegen. Es gibt mehrere Variablen in dieser Vermutung, die ihre Spannung aus der tatsächlichen Überprüfung zieht und nur in ihr aufzulösen ist. Gemüseträger muss man deshalb kennenlernen. Nötiger jedenfalls, als Markenhosenträger oder Nil-Raucher.

Nicht auszuschließen ist allerdings, dass man einem Bluff aufgesessen ist. Denn, und dies ist unschön, aber zwangsläufig: Einmal als ästhetischer Code begriffen, macht es dieser Code einem nicht allzu schwer, an ihm teilzuhaben. Ihn zu eigenen Zwecken zu benutzen. Denn was ist einfacher, als einen Fisch zu erstehen?

Niemand muss nachweisen, dass er die verderbliche Last auch tatsächlich verarbeiten oder verzehren wird oder zu einem von beiden überhaupt in der Lage wäre. Jemand, der - ohne jede Reflexion und einfach so - bemerkt, dass das Tragen von Gemüse zu Kontakten führt, wird künftig einfach ein Netz Zwiebeln mit ins Café nehmen. Und an den Folgen des Phänomens teilhaben wollen - letztlich auch teilhaben können -, ohne sich an dessen Ursachen verdient gemacht zu haben.

Oder wie sonst soll man sich erklären, dass an Sonnabenden rund um den Winterfeldtmarkt noch spät abends diese gebogenen Lauchstengel in den Kneipen stehen, die den Weg nach Hause noch nicht gefunden haben?

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