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Ausbildungsplatzvergabe unter Discokugeln: Das Prozedere im Postbahnhof am Ostbahnhof erinnert an Bohlens DSDS. Warten, bangen, überzeugen.

© Moritz Herrmann

Schüler auf der Last-Minute-Ausbildungsbörse: Eine Stelle, zwei Bewerber

Am 1. September hat das Ausbildungsjahr begonnen. Trotzdem sind noch etliche Stellen unbesetzt. Letzte Jobs werden auf der Last-Minute-Börse im Postbahnhof vermittelt.

„Machen wir das? Ja, das machen wir einfach mal. Das klingt doch gut.“ Die Beraterin vom Jobcenter ist ziemlich überzeugt, Niklas L. leider überhaupt nicht, bei einem Wirtschaftsinstitut wollte er sich eigentlich nicht bewerben, aber das Ausbildungsjahr hat vor drei Wochen begonnen und der 17-Jährige immer noch keinen Platz. Also schweigt Niklas. Und die Beraterin macht einfach mal.

Die Bundesagentur für Arbeit, die IHK und die Handwerkskammer Berlin haben zur Last-Minute-Börse für Ausbildungsplätze in den alten Postbahnhof am Ostbahnhof geladen. Noch 3520 unbesetzte Lehrstellen gab es Ende August in Berlin und 6401 unversorgte Bewerber, in Brandenburg kamen 3307 Suchende auf 3368 freie Posten. Im industriellen Backsteinambiente an der Ostspree sollen Angebot und Nachfrage doch noch zueinander finden. René Dreke von der Arbeitsagentur im Mitte sagt: „Wir müssen jetzt Gas geben, um die Jugendlichen in den Berufsunterricht zu bekommen. Bis zum Oktober kann man sich da noch registrieren.“ Etwa 3800 Schülerinnen und Schüler haben die Veranstalter eingeladen, fast alle sind gekommen. Als die Türen um 8:30 Uhr öffnen, drängt und schubst sich der Nachwuchs in den Raum, an den Registriertisch und weiter zur Infowand, an der die Kurzbeschreibungen offener Plätze hängen. Die Mädchen tragen Strumpfhosen, Kragenblusen und zu viel Schminke. Manche Jungs sind in Jogginghose gekommen. Sie beäugen einander wie Raubtiere. Welches Blatt hast du dir genommen, Bruder? Ist doch egal, Alter. Auf der Last-Minute-Börse geht es nicht mehr um Traumberufe, es geht um Hauptsache-irgendwas-Jobs, der Oktober naht schnell.

Niklas hat ein Ziel: Ausbildung zum Bürokaufmann

Niklas L. will Bürokaufmann werden, wie sein Vater. Er hat seit Juni 2013 den Mittleren Schulabschluss, auf die Börse begleitet ihn seine Mutter. Ausbildungsplatzsuche ist Mamasache. Sie haben in der ersten Reihe hinter den Beratungsboxen aus Spannwand gesessen, mussten eine Nummer ziehen, Bewerber zur Linken, Bewerber zur Rechten. Das Prozedere erinnert an Bohlens DSDS. Hoffen, warten, überzeugen.

Bis zum Donnerstagabend dauert die Last-Minute-Börse noch an, teilnehmen können alle Jugendlichen mit abgeschlossener oder teilabgeschlossener Schulausbildung. Im ersten Obergeschoss stellen sich Unternehmen direkt vor, Mercedes, Deutsche Bahn, Vattenfall, Bundeswehr. „Trotzdem zeigt die Erfahrung, dass wir nicht alle Lehrstellen besetzt kriegen“, erzählt Rica Kolbe von der IHK. Warum? „Häufig passt die Selbsteinschätzung der Schüler nicht. Da will jemand in den Einzelhandel, hat aber eine Fünf in Mathe.“ Die Börse dient zur Zielkorrektur, manchen auch erst zur Zielfindung.

Die Schüler witzeln und lachen - bis sie am Vermittlungstisch sitzen

Niklas L. ist in der ersten Etage nicht fündig geworden, unten liest ihm die Beraterin ein Angebot vor: IT-System-Kaufmann, sehr zentral gelegen, PC-Affinität gewünscht. „Und jedem Azubi stellen die sogar kostenlos ein iPad zur Verfügung!“ Ihre Kollegin findet das großartig, sie lächelt breit, Niklas’ Mutter auch, er aber sagt: „Ich bin Anti-Apple.“ Das solle er im Vorstellungsgespräch mal besser verschweigen, rät die jetzt wieder enteuphorisierte Jobcenter-Dame. Sie druckt den Platz trotzdem aus, ewig dauert das, die Internetleitung der Telekom treibt die Servicekräfte in den improvisierten Büros zur Verzweiflung.

Als Termin kurz vor Ultimo hat sich die Last-Minute-Börse in Berlin bewährt. Im vergangenen Jahr war sie noch in der IHK-Zentrale im Ludwig-Erhard-Haus stationiert, der Postbahnhof aber bietet mehr Raum. Die Jugendlichen kloppen Sprüche und Späße, rau ist der Witz, Schulhofsprache, aber wenn sie an den Beratungstisch treten, werden sie doch wieder ernst. Zukunftsangst macht seriös. Niklas’ Mutter will, dass die Beraterinnen noch mal über seine Bewerbung schauen, so viel Zeit wie hier nimmt sich sonst ja keiner. Kein Problem. „Adresszeile bei 5 Zentimetern beginnen, dann passt die Anschrift auch ins Brieffenster. Abstand zum Betreff größer, drei Zeilen, Abstand zur Anrede kleiner, eine Zeile. Und Sie sprechen Englisch?“ - „Ja, fließend.“ – „Dann schreiben Sie das. Verhandlungssicher. Gemerkt?“ Niklas nickt, gemerkt, Mutter nickt, gemerkt. Heute noch werden sie die Bewerbung rausjagen – und auf einen der 3520 unbesetzten Ausbildungsplätze hoffen.

Moritz Herrmann

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