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Schule: Kritik am Turbo-Abitur mit neuem Schwung

Die Debatte um eine verkürzte Schulzeit hebt in Berlin wieder an. Sind 13 Jahre doch besser? Ein Pro & Contra.

Die Unzufriedenheit über die Verkürzung des Abiturs an den Gymnasien keimt wieder auf. Eltern, Lehrer und Schüler fragen sich erneut, ob das eingesparte Jahr Ausbildungszeit die jahrelange zusätzliche Belastung rechtfertigt. Auslöser für die Wiederauflage der seit fünf Jahren latent geführten Diskussion sind die Organisation des aktuellen Schuljahres und die Defizite des ersten „Turbo“-Jahrgangs, der jetzt abiturrelevante Kurse belegen muss. Bei den aktuell laufenden ersten Elternversammlungen des neuen Schuljahres bricht sich die Unzufriedenheit Bahn.

Vordergründig geht es um die Probleme des sogenannten Doppeljahrgangs: Einmalig müssen 2012 zwei Jahrgänge zusammen Abitur machen. Die eine Hälfte hat noch 13 Jahre Zeit gehabt, die andere zwölf Jahre, weil ihnen die elfte Klasse genommen wurde. An sich war geplant, dass die Mehrzahl der fehlenden Stunden in die Klassen 5 bis 10 vorverlegt werden sollte. Das ist auch geschehen. Allerdings hat die Zeit nicht gereicht, um in den Hauptfächern den gesamten Stoff aus der elften Klasse vorwegzunehmen. Eine Folge besteht darin, dass die Turbo-Abiturienten jetzt beispielsweise in Mathematik nicht mithalten können.

Während sich Eltern und Schüler jetzt vor den ersten Mathematikarbeiten fürchten, kommt der gesamte Frust über die Schulzeitverkürzung wieder hoch: Es geht vor allem darum, dass Schüler bis in den späten Abend hinein Schularbeiten machen, wenn sie nachmittags noch einem Hobby nachgehen wollen.

Die Stimmung ist allerdings nicht überall gleich schlecht. So berichtet der Leiter des Biesdorfer Otto-Nagel-Gymnasiums, Lutz Seele, dass es keine Beschwerden gebe. Er vermutet, dass dies mit der Organisation der Abläufe an seiner Schule zu tun hat: Zum einen bietet das Nagel-Gymnasium für die Turboschüler im Doppeljahrgang Vertiefungskurse an, um die Defizite in Mathematik, Deutsch und Englisch auszugleichen. Zum anderen endet der Unterricht immer um 15 Uhr, es gibt Mittagstisch und eine Hausaufgabenbetreuung bis 16 Uhr.

Nicht alle Schulen schaffen diese Voraussetzungen. Der Landeselternausschuss weiß von etlichen Schulen, die den Unterricht bis weit nach 16 Uhr ausdehnen. Zudem nutzen längst nicht alle Gymnasien die Möglichkeit, Vertiefungskurse anzubieten, obwohl sie dafür zusätzliches Personal bekommen haben. „Es sind diese selbst gemachten Probleme, die die Stimmung gegen das verkürzte Abitur anheizen“, bedauert ein Schulleiter.

Berlin steht mit seinen Umsetzungsproblemen bei der Schulzeitverkürzung nicht allein da. In Baden-Württemberg gibt es längst Forderungen, den Schulen zwischen zwölf und 13 Jahren die Wahl zu lassen, so wie es jetzt in Schleswig-Holstein und NRW beschlossen wurde. In Niedersachsen läuft sogar ein Volksbegehren. Laut einer Allensbach-Studie vom März halten in den westlichen Bundesländern nur sieben Prozent der Befragten die Verkürzung der Schulzeit für gelungen. 71 Prozent sind entweder für eine Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium oder für eine Wahlmöglichkeit.

Die Ausgangslagen sind allerdings nicht identisch. So gehört Berlin zu den wenigen Bundesländern, in denen es ein flächendeckendes Angebot von Sekundarschulen gibt, die den 13-jährigen Weg zum Abitur anbieten. Somit haben die Familien hier ohnehin eine Wahl. Zur Entspannung trägt auch bei, dass die Ausstattung mit Mensen in den meisten Berliner Bezirken besser ist als in den westlichen Bundesländern. Zudem gibt es etliche Ganztagsgymnasien wie die Otto-Nagel-Schule. Deren Schulleiter Lutz Seele befürwortet das verkürzte Abitur vor allem deshalb, weil man aus seiner „besten Zeit“ nach dem Abitur mehr machen kann. International sei es sowieso unüblich, 13 Jahre bis zur Hochschulreife zu brauchen.

Landeselternsprecher Günter Peiritsch hält es denn auch nicht unbedingt für nötig, die 13 Jahre zurückzuholen. Seine Bedingung lautet allerdings: Der Unterrichtsstoff muss entschlackt und der Unterricht gut organisiert werden.

PRO

G8-Schülern fehlt Wissen. Sie hinken in den Doppeljahrgängen in Mathe hinterher, sie sind weniger belesen. Wie sollte es auch anders sein? Den gleichen Inhalt in kürzerer Zeit lernen: Das klappte in Berlin vor G8 in leistungsstarken Schnellläuferklassen. Jetzt, wo es jeder Gymnasiast schaffen soll, leidet der Unterricht. Bildung fällt dem internationalen Wettbewerb um jüngere Hochschulabsolventen zum Opfer – aber es hat kaum noch jemand den Nerv, darüber zu diskutieren. „Wir können den Schulen keine erneute Kehrtwende zumuten“, heißt es, und: „Inzwischen macht doch die ganze Republik mit.“ Argumente, die völlig am Thema vorbeigehen. Sie blenden aus, dass weder Schüler noch Eltern diese Reform wollten.

Nirgendwo in Deutschland sind die Klagen verstummt, in denen es um Kinder und Jugendliche geht, die überfordert sind, dauernd Kopfschmerzen haben, deren volle Kalender keinen Raum für Hobbys lassen. Diese Schüler werden bald, gerade volljährig, vor der Entscheidung für ein Studienfach stehen. Ihnen wäre mehr Zeit zu wünschen. Zeit, um jung zu sein, um sich über die eigenen Ziele klar zu werden. Aber nicht auf Kosten ihrer Bildung. Immer schneller, immer jünger, immer mehr auf einmal: Das ist nicht der richtige Weg. Dass man ihn auch ein Stück weit zurückgehen und so Beschwerden der Betroffenen ernst nehmen kann, macht Nordrhein-Westfalen gerade vor. Anne-Sophie Lang

CONTRA

Die Entscheidung des Senats, die Schulzeit bis zum Abitur auf zwölf Jahre zu verkürzen, war seinerzeit genau richtig. Nicht nur im Hinblick auf die internationale Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen Schulabgänger. 13 Jahre waren einfach zu lang, da gab es auch viele Phasen des Leerlaufs. Leider haben die Schulpolitiker es versäumt, diese Reform angemessen vorzubereiten. Sie wurde überstürzt eingeführt. Auf einmal saßen die Gymnasiasten beinahe ganztags in ihrer Schule, obwohl diese oft nicht für einen Ganztagsbetrieb ausgerüstet war. Auch viele Lehrer stellten sich nicht richtig auf die neue Situation ein; sie gaben Hausaufgaben im selben Umfang auf wie vorher. Die Folge: Die Schüler ächzten unter dem Druck und fühlten sich überfordert. Und die Lehrpläne waren schon gar nicht entrümpelt worden. Jetzt aber die Uhr zurückzudrehen und auch an den Gymnasien wieder die 13 Jahre bis zum Abitur einzuführen, wäre wahnsinnig. Abgesehen davon, dass man diese Zeit ja an den Sekundarschulen hat. Was die Schulen derzeit nicht brauchen, ist eine Reform der Reform, bevor diese überhaupt richtig gegriffen hat. Erst in knapp zwei Jahren werden die ersten Turbo-Abiturienten die Schule verlassen. Die Schulen brauchen Ruhe und verlässliche Parameter. Der Bildungssenator muss dafür sorgen, dass die Bedingungen stimmen. Was verbessert werden muss, werden ihm Eltern, Lehrer und Schüler schon sagen. Sigrid Kneist

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