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Anti-Gewalt-Projekt: Der Moment vor dem Faustschlag

Neues Anti-Gewalt-Projekt soll Pädagogen auf den Umgang mit aggressiven Schülern vorbereiten.

Da ist dieser große, kräftige Jugendliche. Sein Vater ist ungefähr einen Kopf kleiner als er. „Heute hat mich mein Vater verprügelt“, sagt der Junge dem Pädagogen. Wehren würde er sich nicht, nicht einmal schlecht über seinen Vater denken. Er geht stattdessen auf die Straße und sucht sich jemanden, an dem er seine Wut auslassen kann. Ein Opfer.

Das ist nur eine Geschichte, die Professor Jürgen Körner, Leiter der Forschungsgruppe „Jugendliche Delinquenz“ an der FU, über gewalttätige Jugendliche erzählen kann. Aber verallgemeinern lässt sie sich nicht. Das ist wohl die Kernaussage der Weiterbildungsprojektes für 400 Berliner Lehrer, das die Denkzeit-Gesellschaft zusammen mit der Freien Universität Berlin und der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung nun startet. Meist stehen die Lehrer unvorbereitet und hilflos der Gewalt gegenüber. „Wenn wir die Motive kennen, hat das ganz andere Konsequenzen zur Folge“, sagt Rebecca Friedmann, die das Pilotprojekt leitet.

Um die Motive und Konsequenzen kennen zu lernen, können die Lehrer aus vier Modulen wählen. Die „Studientage“ sollen den Lehrern wissenschaftliche Erkenntnisse an die Hand geben. In der „Praxisberatung“ können sie sich unter Anleitung mit Kollegen austauschen. Bei den „Projekttagen“ arbeiten Lehrer und Denkzeit-Pädagogen mit der Klasse zum Thema „soziale Kompetenz. Die intensivste Weiterbildungsmöglichkeit ist die „Denkzeit-Grundausbildung“, in der die Lehrer umfassend zum Umgang mit aggressiven Jugendlichen geschult werden sollen. Die Teilnahme ist freiwillig und findet in der Freizeit der Lehrer statt. Es gilt: Wer sich zuerst bewirbt, nimmt teil.

„Ich bin sicher, dass wir uns vor Anmeldungen kaum retten können“, sagte Landesschulrat Hans-Jürgen Pokall. Die Senatsverwaltung beteiligt sich mit 7500 Euro an dem insgesamt 75 000 Euro teuren Projekt. Das restliche Geld stammt aus dem Europäischen Sozialfonds. Nach mehreren gewalttätigen Zwischenfällen an Berliner Schulen stellte man sich die Frage, wie Lehrer besser darauf vorbereitet werden können, mit verhaltensauffälligen Schülern umzugehen. Erst vor zwei Wochen schlug ein Berufsschüler des Oberstufenzentrums Gastgewerbe einen Lehrer krankenhausreif. „Wir brauchen für die Lehrer keinen Karatekurs, sondern Wissensvermittlung“, sagt Friedmann. Die Lehrer sollen erst gar nicht in so bedrohliche Situationen kommen.

Körner unterscheidet drei Typen von gewaltbereiten Jugendlichen. Der eine will mit der Gewalt seine Interessen durchsetzen, zum Beispiel ein Handy „abziehen“. Er sei sich keiner Schuld bewusst, könne durch Sanktionen aber erreicht werden. Der zweite Typ schlägt zu, wenn er sich provoziert fühlt. Ein Blick reicht dazu. Doch auch er sei relativ gut zu erreichen. Der schwierigste Typ sei der Frusttäter. Er trägt eine ständige Wut in sich, die sich unvermittelt entladen kann. Hier helfen keine Sanktionen, bei ihm müsse man langfristig das Selbstwertgefühl aufbauen.

„Eigentlich kommen wir zu spät“, sagt Körner. Jugendliche zeigten nicht von heute auf morgen Verhaltensauffälligkeiten. „Die Lehrer sollen korrigieren, was im Elternhaus versäumt wurde.“ Dabei will die Denkzeit-Gesellschaft helfen, die 2003 aus einem Forschungsprojekt der FU entstanden ist. Außerdem bietet sie seit mehreren Jahren eine Betreuung für Berliner Schüler, die straffällig geworden sind. 240 Jugendliche haben daran teilgenommen; bei 100 von ihnen hat die Gesellschaft die Strafregisterauszüge vor und nach dem Training mit ausgebildeten Pädagogen verglichen. Vorher haben sie 3,4 Straftaten im Jahr verübt. Nach dem Training ging der Schnitt auf 0,6 Straftaten zurück. Auch der große, kräftige Jugendlichen hörte auf zuzuschlagen. Er hat jetzt eine Ausbildungsstelle.

Anmeldungen ab sofort unter www.denkzeit.com

Matthias Jekosch

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