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© Kitty Kleist-Heinrich

Berliner Schuldschungel (2/1): Die Frühstarter

Grundständige Gymnasien gelten als Erfolgsmodell. Schlaue Kinder, die sich in der Grundschule unterfordert fühlen, können schon ab der Fünften wechseln. Doch nicht für alle ist Hochleistungslernen mit zehn das Richtige.

V ater und Sohn fangen einen riesigen Fisch. „Aber der Sohn weint so sehr darüber, dass der Vater den Fisch wieder ins Wasser wirft. Und da wird der dann von einem Hecht gefressen“, sagt Maeve Michael. Sie erzählt eine Bildergeschichte nach, zu der sie neulich einen Aufsatz schreiben sollte, im Deutschunterricht. Den findet sie zurzeit viel besser als im vergangenen Schuljahr an der Grundschule. Auch sonst fand sie es da manchmal ganz schön langweilig. „Die Wortarten haben wir in der vierten Klasse mindestens viermal durchgenommen“, sagt die zierliche Zehnjährige. Dabei hatte sie längst den Unterschied zwischen Verben, Substantiven und auch die Sache mit der Satzstellung kapiert. „Das ist doch nicht so schwierig“, sagt Maeve und klingt ein bisschen genervt, obwohl sie sonst ein sehr höfliches Kind ist. „Da kennst du meine Klasse nicht“, sagt Jakob Lange, 12 Jahre alt. „Manche wissen immer noch nicht, was ein Adverb ist.“

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Maeva Michael (10) und Jakob Lange (12) aus der Rückert-Oberschule in Berlin-Schöneberg. -

© Kitty Kleist-Heinrich

Jakob wie auch Maeve gehen seit den vergangenen Sommerferien auf das Rückert-Gymnasium in Schöneberg. Jakob ist in der regulären siebten Klasse, mit der im Normalfall die Oberschule für Berliner Kinder beginnt. Maeve ist schon früher in Richtung Abitur gestartet: mit einer bilingualen fünften Klasse, in der 32 Schüler intensiv sechs Stunden Französisch pro Woche lernen. Später in der siebten und achten Klasse werden sie sogar in Erdkunde und Geschichte in der Sprache des Hexagons unterrichtet. Englisch steht zusätzlich mit drei Stunden auf dem Stundenplan.

Maeve und ihre Klassenkameraden gehören zu den sieben Prozent eines Jahrgangs Berliner Schüler, die laut Senatsschulverwaltung aus der Grundschule in die fünfte Klasse eines sogenannten grundständigen Gymnasiums wechseln. Jakob wiederum ist Teil jener Schülergruppe von 40 Prozent, die sich erst in der sechsten Grundschulklasse fürs Gymnasium entscheidet. Die fünfte Klasse im Gymnasium bildet in Berlin die Ausnahme. Und damit ist Berlin wiederum eine Ausnahme unter den Bundesländern. Grundständige Gymnasien seien vor allem ein Angebot an Kinder mit besonderen Begabungen, sagt Bildungssenator Jürgen Zöllner. Aber viele Eltern wollen sich nicht damit abfinden, ihr Kind erst mit zwölf auf den Weg in Richtung Abitur zu schicken. Neben den sogenannten Schnellläuferklassen für die besonders Begabten gibt es auch ein Reihe von Schulen, die in der Fünften mit dem Lateinunterricht beginnen, andere bieten ein spezielles Sprachprofil, wie die Rückert-Schule, oder ein mathematisch-naturwissenschaftliches.

Auch Nadia El-Khadra-Kluth wollte ihren Sohn Sinan eigentlich gern in eine fünfte Gymnasialklasse einschulen. „Ich hatte das Gefühl, Sinan lernt nicht genug in seiner Klasse auf der Grundschule.“ Sinans Schule, die Sternberg-Grundschule, liegt im selben Gebäude wie das Rückert-Gymnasium. Zwei seiner Klassenkameraden wechselten nach der vierten Klasse in den gymnasialen Trakt des großen Hauses. Doch Sinan blieb, wo er war, und sitzt nur ein paar Meter von Maeve entfernt ebenfalls in einer fünften Klasse. „Zuerst wollte ich schon aufs Gymnasium, aber dann habe ich mir das nochmal ganz genau überlegt. Es ist da doch viel schwieriger“, sagt Sinan und klingt dabei so vernünftig wie ein Erwachsener. Im Zeugnis hat er fast nur Einsen und Zweien, sagt seine Mutter. „Bei uns sind die Schüler umsorgter“, sagt Jörg Brode, Schulleiter der Sternberg-Grundschule. „Viele Kinder sind bei uns besser aufgehoben – und zwar nicht nur die leistungsschwachen.“ Wer seine Kinder auf der Grundschule lasse, gebe ihnen „mehr Zeit“. Das sei vor allem für verspielte Kinder wichtig.

Wenn er über die Situation in Berlin nachdenkt, mit all ihren Ausnahmen von der Regel, Kinder erst zur Siebten auf die Oberschule zu schicken, schwankt Brode zwischen zwei Meinungen: „Das ist ein heißes Thema in Berlin. Einerseits ist es keine gute Situation. Sollte es irgendwann noch mehr fünfte Gymnasialklassen geben, könnte das Niveau in den Grundschulen so empfindlich sinken, dass es den verbleibenden Kindern schadet. Aber zum Glück gehen bei uns immer nur wenige Kinder vorzeitig.“ Ganz anders sei das bei seiner vorherigen Schule in Kreuzberg gewesen. „Da entstand in der fünften Klasse ein richtiges Vakuum: Viele Kinder mit bildungsbürgerlichem Hintergrund verschwanden.“ Manchmal denkt Brode aber auch, dass es für einige Kinder gut ist, früh zu wechseln: „Es gibt eindeutige Gymnasialkandidaten, die müssen mit anderen leistungsstarken Kindern zusammen lernen – auch, um ihre Grenzen kennenzulernen.“

Sein Kollege Jörg Balke, Schulleiter der Rückert-Oberschule, meint das Gleiche: „Unsere fünften und sechsten Klassen sind sehr homogene Gruppen mit besonders lernbereiten Schülern.“ Der Unterricht sei intensiver als an der Grundschule. Besonders in den Fremdsprachen, doch auch der naturwissenschaftliche Unterricht finde „auf einer anderen Ebene“ statt. „Am Ende der sechsten Klasse zeichnet sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Schülern des bilingualen Zugs und ihren Altersgenossen ab.“ Das sieht Bildungssenator Zöllner anders: „Eine Schere zwischen Grundschulen und grundständigen Gymnasien öffnet sich nicht. Im Gegenteil: Bei den Leistungsschwächeren scheint die Grundschule Bildungsnachteile zu kompensieren. Und auch Leistungsstärkere werden adäquat gefördert“, sagte er vergangenes Jahr, als die Element-Studie des HU-Erziehungswissenschaftlers Rainer Lehmann erschien und Kritik am System laut wurde. Leistungsstarke Schüler lernten weniger, wenn sie nach der vierten Klasse auf der Grundschule blieben, hieß es damals.

Balkes Antrag, einen zweiten Zug ab Klasse fünf zu eröffnen, wurde nicht angenommen. „Es gibt viel mehr geeignete Schüler, als wir Plätze anbieten können“, sagt der Schulleiter. Auf jeden Platz an der Rückert-Oberschule kämen etwa drei Bewerber. In Deutsch, der ersten Fremdsprache, Mathematik und dem Sachunterricht müssen die Kinder möglichst eine Eins mitbringen. Im Auswahlgespräch achtet Balke dann besonders auf das Leseverständnis und darauf, „wie schnell und präzise die Kinder denken können“.

Für Maeve war das vor einem Jahr kein Problem: „Herr Balke wollte von mir wissen, wie spät es in New York war und was eine Fabel ist.“ Besonders die zweite Aufgabe lag ihr, schließlich ist Deutsch ihr Lieblingsfach. „Ich habe mich so gefreut, als ich angenommen wurde“, sagt sie. Die Rückert-Oberschule hatte ihr schon am Tag der offenen Tür so gut gefallen, und daran hat sich im letzten halben Jahr nichts geändert, obwohl Maeve auf einmal wesentlich mehr Hausaufgaben hat. Aber das findet sie „ vollkommen in Ordnung“ – solange sie nicht schon wieder Wortarten bestimmen muss.

Folge 1:

FRÜHER AUFS GYMNASIUM?

Die anderen Themen

- Der Weg zur Wunschschule: Wenn Eltern tricksen (15.1.) - Hauptsache exotisch: Die Qual der richtigen Sprachwahl (20.1.) - Sonderschule: Wann ist sie richtig für mein Kind? (22.1.)

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