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Kinder stark machen. Kinder und Jugendliche, die sich in der Öffentlichkeit und in Vereinen bewegen, sind gefährdet. Vertrauen in die eigene Persönlichkeit und die eigenen Fähigkeiten sind der beste Schutz. Foto: Caro / Sorge

© Caro / Sorge

Betreuer: Vereint verunsichert durch Missbrauchsvorfälle

Sexueller Missbrauch findet auch in Sportklubs und Jugendeinrichtungen statt. Viele Betreuer sind irritiert, denn klare Regeln fehlen.

Von Sandra Dassler

Die öffentliche Debatte um sexuellen Missbrauch von Kindern in Kirchen und Schulen hat zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für das Thema auch in anderen Einrichtungen Berlins geführt. „Wir haben mehr Anfragen als sonst“, sagt Sigrid Richter-Unger, die Leiterin der sozialtherapeutischen Beratungsstelle „Kind im Zentrum“ (Kiz): „Man merkt, dass sich die Menschen mit der Thematik beschäftigen. Nicht nur bereits Betroffene wenden sich an uns, sondern auch viele Leiter von Einrichtungen, die plötzlich feststellen: ,Wir haben ja auch kein Verfahren, um so etwas zu verhindern.‘“

Kiz bietet Hilfen für sexuell missbrauchte Kinder und Jugendliche an, berät aber auch Kitas, Ausbildungsstätten und Vereine. „Wir hatten schon 2009 eine ständig steigende Zahl von Anfragen“, sagt Richter-Unger, „aber in den vergangenen sechs Wochen haben sie angesichts der aktuellen Diskussion um Kirche und Schulen weiter zugenommen.“

Kein Wunder, meint Maria van Os von „Strohhalm e. V.“, der Fachstelle für Prävention von sexuellem Missbrauch an Mädchen und Jungen: „Nach unseren Erfahrungen kommen die Täter zu 85 Prozent aus dem sozialen Umfeld ihrer Opfer. Und wiederum nur ein Drittel davon sind Familienmitglieder, die anderen also Nachbarn, Lehrer, Erzieher, Freunde, Trainer oder Betreuer.“

Laut Polizeistatistik steht zwar nur etwa die Hälfte aller Opfer „in einer Vorbeziehung zu den Beschuldigten“, das liegt aber daran, dass viele Kinder die Täter nicht oder erst viel später anzeigen. 600 bis 700 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern registriert die Berliner Polizei jährlich – 40 Prozent sind Jungen. Rechnet man die kinderpornografischen Straftaten hinzu, betrifft fast jedes zweite Sexualdelikt in Berlin ein Kind.

Um Mädchen und Jungen zu schützen, gibt es in den meisten Kitas, Schulen und Jugendhilfeeinrichtungen seit längerem von den zuständigen Behörden und Trägern angeordnete Standards. In den Vereinen, die oft und zu Recht damit werben, dass sie Kinder „für das Leben stark machen“, sieht das anders aus. „Die haben sowieso Probleme, ehrenamtliche Trainer oder Betreuer zu finden“, sagt Sigrid Richter-Unger. „Sie scheuen sich dann oft, den Freiwilligen auch noch ein polizeiliches Führungszeugnis abzuverlangen, obwohl das in Berlin auf Antrag des Vereins vom Ordnungsamt kostenlos ausgestellt wird.“

Schließlich drängen sich Pädophile immer wieder in Vereine und Einrichtungen, wo sie sich Kindern nähern können. So war es einem Spandauer trotz einer Vorstrafe wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern gelungen, den Jugendklub „Oase“ im brandenburgischen Velten zu leiten. Dort verging er sich an mindestens neun Jungen, bevor er entdeckt und 2007 erneut verurteilt wurde.

„Pädophile sind meist die beliebtesten Erzieher, weil sie ihre ganzes Leben lang alle Energie darauf verwenden, das Vertrauen von Kindern zu gewinnen“, sagt Thomas Schlingmann. Der 52-Jährige arbeitet seit 15 Jahren als Trauma-Fachberater bei „Tauwetter“, einer Anlaufstelle für Männer, die als Jungen sexuell missbraucht wurden. Er kann bestätigen, dass kaum einer derjenigen, die bei ihm Hilfe suchen, von Fremden gequält wurde.

„Das hätte wahrscheinlich nicht solche traumatischen Folgen, denn das Leid entsteht ja weniger durch die körperliche Verletzung als durch die seelische“, sagt Schlingmann. Jemand, den das Kind verehre oder bewundere, jemand, dem es total vertraue, benutze es plötzlich wie ein Objekt. Die Botschaft, die das Opfer oft ein Leben lang nicht mehr los werde, sei: „Du bist ein Stück Dreck, ich kann mit dir machen, was ich will.“

Schlingmann hat viele Männer weinen sehen, die meist kommen erst, wenn sie merken, dass sie ihr Trauma nicht allein in den Griff kriegen. Noch Jahrzehnte nach dem Missbrauch. Deshalb hat er keinerlei Verständnis für fragwürdige Theorien, wonach die „Liebe von Erwachsenen zu Kindern bei gegenseitigem Einverständnis nichts Schlimmes“ sei. „Selbst wenn Pädophilie eine Krankheit ist, muss man von dem, der sie hat, verlangen, dass er verantwortungsvoll damit umgeht“, sagt er. „Wir erwarten ja schließlich auch von jedem Aids-Kranken, dass er Kondome benutzt und niemanden ansteckt.“

Der Trauma-Fachberater weiß auch, dass das Thema sexueller Missbrauch nicht nur in der Kirche, sondern überall dort auftritt, wo es sehr hierarchische Strukturen gibt oder eben gar keine Hierarchie und kein Beschwerdemanagement. Letzteres schütze nicht nur die Kinder, sondern entlaste auch die Erwachsenen, von denen viele angesichts der intensiven öffentlichen Diskussion durchaus verunsichert sind.

Bei „Kind im Zentrum“ riefen deshalb nicht selten Erzieher oder Lehrer an, sagt Sigrid Richter-Unger: „Das geht bis hin zu Nachfragen, ob man die kleinen Mädchen noch auf den Schoß nehmen darf.“ Deshalb sei es so wichtig, gewisse Regeln auszuhandeln und festzulegen – auch und gerade in Vereinen.

Kiz hat schon seit dem letzten Jahr eine Kooperationsvereinbarung mit dem Landessportbund und der Sportjugend Berlin und wird sich in den nächsten Wochen verstärkt um Vereine bemühen. „Bei denen ist es noch ein wenig so wie früher mit den Schulen“, sagt Richter-Unger. „Sie denken, es sei ein Zeichen von Schwäche, wenn man sich mit Problemen outet. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall.“

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