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Schule: Brücke zur Außenwelt

Viele autistische Kinder brauchen Hilfe, um den Schulalltag zu bewältigen. Doch nun will der Senat bei der Betreuung sparen

Auf den ersten Blick ist Vanessa nicht anzumerken, dass sie anders ist. Sie ist 13 Jahre alt, ein aufgewecktes, hübsches Mädchen mit großen grünen Augen. Den Blickkontakt meidet sie jedoch. Sie wendet sich schnell wieder ab, verdeckt ihr Gesicht mit einem Kissen, blickt aus dem Fenster hinaus in den Garten. Dort tobt Lucy, der Golden Retriever, mit dem Vanessa besser kommunizieren kann als mit den Menschen in ihrer Umgebung.

Vanessa ist Autistin. Sie besucht eine Schule für körper- und lernbehinderte Kinder. Und im schulischen Alltag zeigt sich am deutlichsten, wie der Autismus sie einschränkt. Sie spricht fast überhaupt nicht, schon gar nicht in Gruppensituationen oder in der Klasse, auch nicht mit Lehrern. Daher hat Vanessa seit drei Jahren einen Schulhelfer. Zehn Stunden in der Woche steht er ihr zur Seite, motiviert sie beim Lernen und begleitet sie zum Beispiel vom Klassenzimmer zur Sporthalle oder zum Musikraum. Den Weg würde Vanessa alleine nicht finden, oft genug hat sie sich im Schulgebäude verlaufen. Der Schulhelfer hakt außerdem nach, ob sie auf Toilette muss, denn auch das würde Vanessa niemals von sich aus äußern.

„Ohne Schulhelfer ist es ihr nicht möglich, im Klassenverband zu lernen“, sagt Heike Heldt, Vanessas Mutter. Der Schulhelfer ziehe sie aus Situationen heraus, die sie belasten, etwa wenn sie sich nicht mehr konzentrieren kann, weil es in der Klasse zu laut ist. Außerdem arbeitet er mit ihr ein eigenes Schulprogramm aus, das Vanessas Entwicklungsstand entspricht. „Der Schulhelfer ist ihre Brücke zur Außenwelt“, erklärt Heldt. Es sei schwer genug, dass sich Vanessa jedes Jahr auf eine neue Bezugsperson einstellen müsse, da sie oftmals Jahre brauche, um Vertrauen zu fassen. Erst seitdem sie zusätzlich durch einen Schulhelfer gefördert werde, ertrage sie es, in einem Raum mit fremden Menschen zu sein.

„Autisten können nur in den seltensten Fällen ein komplett selbstständiges Leben führen“, sagt Heldt. Es sei aber inzwischen hinlänglich bekannt, dass eine höhere Selbständigkeit nur durch eine möglichst frühe intensive Förderung – sowohl im privaten als auch im schulischen Bereich – erreicht werden könne. Die Sorge für ein autistisches Kind der Pflegestufe II ist ein Vollzeitjob: Logopädie, Ergo-, Schwimm- und Reittherapie: Um ihre Tochter zu fördern und aus dem Autismus herauszuholen, hat Heike Heldt nichts unversucht gelassen.

„Meinen Job habe ich schon vor sieben Jahren an den Nagel gehängt“, sagt die alleinerziehende Mutter. Vor mehr als einem Jahr sind sie mit Heldts Freund Frank zusammengezogen. Das habe erstaunlich gut funktioniert. Denn die kleinsten Abweichungen vom Alltag – sei es, dass der Sportunterricht oder eine Therapie ausfällt – können Panik, Wut und Tränen auslösen. „Sie reagiert sofort auf die kleinste Veränderung in ihrem Umfeld“, sagt Heldt. „Und nun verstärkt in der Pubertät, wenn sie immer mehr an die eigenen Grenzen stößt.“

Dass die Schulhelfer gekürzt werden sollen, ist Heldt zufolge eine Sparmaßnahme, die „mal wieder die Schwächsten trifft und Behinderte diskriminiert“. Sie kann sich nicht vorstellen, wie unqualifizierte Betreuer aus dem Stellenpool einem autistischen oder schwerbehinderten Kind den Lernstoff vermitteln oder gar auf seine individuellen Bedürfnisse reagieren können sollen. „Es ist schon als Mutter und selbst als ausgebildete Lehrkraft schwer genug, Vanessa Wissen zu vermitteln“, sagt Heldt. Ein Abzug des Schulhelfers hätte zur Folge, dass ihre Tochter mit einem Puzzle in die Ecke gesetzt werde, „weil die Lehrerin eine 1:1- Betreuung einfach nicht leisten kann“. Nach kürzester Zeit würden Rückschritte in Vanessas Entwicklung drohen, und das mühsam Erlernte würde verkümmern. „Die Schule ist dann reine Aufbewahrung“, sagt die Mutter. Von Beschulung könne überhaupt nicht die Rede sein.

Seitdem Vanessa einen Schulhelfer hat, macht sie gute Fortschritte beim Lernen. In den Schuljahren zuvor war sie lediglich mit dem Ausmalen von Bildern beschäftigt. „Vanessa ist aber in der Lage, noch viel zu lernen“, sagt Heldt. „Sie ist auch auf dem besten Weg, soziale Kompetenzen zu entwickeln.“ All das würde verloren gehen, wenn sie nicht weiterhin gefördert werde. Außerdem möchte Vanessa unbedingt Lesen und Schreiben lernen. „Sie lässt ihr Mittagessen für die Hausaufgaben stehen“, sagt die Mutter voller Stolz. „Welches normale Kind macht das schon?“ Laura Wieland

Laura Wieland

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