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Bürgerjournalismus: Das Kleingedruckte der Pressefreiheit

Am "Tag der Talente" des Bundesbildungsministeriums hat Tagesspiegel.de Schüler gebeten, einen Kommentar über Journalismus im Internet zu schreiben. Was Judith G. zum Thema Bürgerjournalismus meint, lesen Sie hier.

Ich bin: ungeduldig. Ich will: Journalistin werden. Ich, Kind der Generation 2.0, Google. Ich finde: diverse Internetseiten, die mir genau das versprechen: anmelden, Presseausweis anfordern, Presseausweis erhalten, schreiben, publizieren – mit maximal zwanzig Minuten Zeitaufwand.

Und das Ganze nennt sich dann "Bürgerjournalismus".

Ich bin: schockiert.

Aufgewachsen als Tochter zweier Bibliothekare und sozialisiert zwischen greifbaren Printmedien, den heldenhaft-souveränen engagierten Reportertypen à la Karla Kolumna, kann ich gar nicht anders, als zu sagen: ich bin schockiert.

Ich downloade mir also meine Lizenz als "professioneller Schreiber", spare mir Studium, Volontariat, Erfahrung – kurz: Zeit, bin fähig, Buchstaben aneinander zu reihen und bin Journalist?!

Der Begriff Journalismus erfährt eine Sinnentleerung. Wenn jeder publizieren kann, was er will, wo er will, worüber er will, wenn jeder für sich den Anspruch erhebt, als gesellschaftliches Sprachrohr zu fungieren, verliert der Beruf des Journalisten nicht nur an Relevanz und Bedarf, sondern auch an Wert und Qualität.

Das Grundgesetz propagiert zwar Pressefreiheit, erlaubt hiermit also zumindest theoretisch jedem – dem Konditor von nebenan, dem HipHopper in der Straßenbahn, der Putzfrau bei McDonalds – pressetechnisch eben frei zu sein.

Haken: das Kleingedruckte, das der Pressefreiheit anhängt – ist; Recherche und Überprüfung der Quellen.

Was der Bürgerjournalismus leistet, ist letztlich nichts als ein Sammelsurium an Momentaufnahmen, an generalisierten Subjektivitäten, an Pseudowissen ohne Nachweis und Fundament.

Ja, wir haben „gelebte Demokratie“, an der tatsächlich jeder am öffentlichen Meinungsbildungsprozess teilhaben kann, aber das Paradoxe daran ist doch: Wenn wirklich jeder seine eigene Meinung publizieren kann, existiert die öffentliche Meinung nicht mehr, weil nicht ermittelbar. Ich kann auch nicht jeden Bundesbürger in eine Statistik einbinden, ich kann nur versuchen, repräsentativ auszuwählen.

Der Journalist bildet ab, der Bürgerjournalist bleibt meist Abbild seiner selbst - "Big Brother is watching you" modernisiert, jeder auf der Suche nach genau dem, was die eigene Sensationsgier befriedigt, jeder analog zu Überwachungskameras überall installiert, um zu dokumentieren - vielleicht den Attentäter am Bahnhof, aber eben auch den Apfeldieb bei Oma nebenan.

Objektiv im Bericht, subjektiv in der Themenwahl, qualitativ meist eins: im Keller, quantitativ: exzellent. Problem ist nur: Wer filtert? Wer sichtet das von Millionen Kameras ausgestrahlte Material, wer wertet aus? Wer hält die Fäden? Im Bürgerjournalismus: Keiner. "Everybody on their own"; der Markt geflutet, das System überfüllt; detailliertes Nachrichtenkomglomerat statt -

ja, statt Journalismus. Statt Verbreitung tatsächlicher Information. Und die steckt eben nicht in Omas Apfeldieb.

Auch, wenn ich ungeduldig bin: Ich glaube, ich werde doch lieber studieren.

Judith G.

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