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Grünes Klassenzimmer. Die Schüler der Waldklasse der Conrad-Schule in Wannsee beim Unterricht im Freien.

© Kitty Kleist-Heinrich

Conrad-Schule in Zehlendorf: Erste Klasse unter Bäumen

Sie kneten im Lehm und sammeln Käfer, auf ihrem Stundenplan stehen die Fächer „Lebenskompetenz“ und „Lebensräume“: Die Waldklasse der Conrad-Schule in Wannsee verbringt den größten Teil des Unterrichts in der Natur – einzigartig in Berlin.

Joel arbeitet fast schon mit chirurgischer Präzision, das muss man ihm lassen. Fünf Zentimeter weiter links, und das Wasser wäre neben dem Loch im Lehmboden gelandet, fünf Zentimeter weiter rechts, und es hätte auf die Hand von Zimane gespritzt, die liebevoll Lehm knetet. So aber fällt das Wasser genau in den Teil des Lochs im Lehm, wo es hin soll. Joels T-Shirt ist genauso gelb wie der Plastikeimer, den er in der Hand hält, er starrt interessiert auf Zimane, die am Loch kniet und Wasser und Lehm zu Matschepampe vermischt. Und daneben steht Julius, umklammert eine Plastikschale und wartet, dass er die Pampe einfüllen kann.

Kinder spielen im Volkspark Glienicke, das ist das oberflächliche Bild. In Wirklichkeit findet hier, einen Steinwurf vom Wannsee entfernt, mitten in der Natur, Schulunterricht der besonderen Art statt. Denn zwischen Büschen und einem knorrigen Baum steht Anne Tlach und sagt: „Kinder brauchen eine entspannte Umgebung. Erst dann sind sie richtig aufnahmefähig. Und sinnliche Arbeit fördert diese Entspannung.“ Die Arbeit mit Wasser, Lehm und Matschepampe zum Beispiel. Im Volkspark Glienicke wühlen Kinder, sechs bis acht Jahre alt, im Dreck oder sammeln Käfer, Würmer und Äste, damit sie leichter Lesen, Rechnen und Schreiben lernen.

Die Waldklasse gibt es seit Beginn des Schuljahres

Lehrerin Birgit Eiselt und Kinder ihrer Klasse.
Lehrerin Birgit Eiselt und Kinder ihrer Klasse.

© Kitty Kleist-Heinrich

Willkommen in der Welt der Naturpädadogik, willkommen bei der Waldklasse der Conrad-Schule in Zehlendorf. Willkommen aber vor allem in einer besonderen Form des Unterrichts. Eine Waldklasse, in der Inklusionskinder mit Altersgenossen lernen, die keine psychischen und körperlichen Probleme haben, das ist neu in Berlin. Seit Beginn dieses Schuljahres gibt es diese Waldklasse.

Anne Tlach ist Teil des Projekts. Die Ethnologin ist Geschäftsführerin der gemeinnützigen GmbH Naturkulturgut Jägerhof. Der Hof kooperiert als Träger mit der Conrad-Grundschule, 26 Kinder, darunter ein Drittel mit Inklusionshintergrund, verbringen einen Teil ihres Schulalltags zwischen Bäumen, Büschen und Tausendfüßlern. Ihre Schule ist 20 Meter entfernt, der frühere Pferdestall von Schloss Glienicke, heute ein modern hergerichtetes Gebäude. Zwei Lehrer und drei Erzieher kümmern sich um die Kinder, die Klasse ist altersgemischt, Schüler von der ersten bis zur dritten Klasse, JüL-System. Diese Klasse gehört unverändert zur Conrad-Schule, sie wurde nur in diesem Schuljahr ausgegliedert. Für einen Platz in diesem Schulversuch musste man sich bewerben, die Pädagogen wählten dann aus.

Im Wald müssen die Kinder nicht ständig leise sein

Seit rund zwei Wochen gibt es diese Klasse, „aber schon jetzt“, sagt Birgit Eiselt, „merkt man die Erfolge.“ Birgit Eiselt ist die Klassenlehrerin, eine Frau mit herzlichem Lachen, die mit langem Rock und Gummistiefeln mit orientalischen Mustern auf dem Waldboden steht. „Viele Kinder haben die Erfahrung gemacht, dass sie zu laut und zu heftig sind.“ Aber hier, im Wald, mit persönlichem Freiraum, „hören sie nicht ständig, dass sie leiser sein sollen“. Sie fühlen sich nicht permanent eingegrenzt, mit dem Ergebnis, „dass sie offener und aufnahmefähiger sind“. Birgit Eiselt hat hier auch Kinder, bei denen Eltern und Psychologen fast verzweifelt sind. „Die haben so eine dicke Akte“, sagt sie und zeigt die Spanne mit Daumen und Zeigefinger. „Wenn ich aufgrund der Akten nicht gewusst hätte, um wen es sich handelt, hätte ich diese früher problematischen Kinder hier nicht erkannt.“ Weil sie auf einmal nicht mehr so auffällig sind.

Lydia (Name geändert) ist auch ein Inklusionskind. Ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren, das ihren Stoffhasen fest an sich drückt und dann im Gebüsch verschwindet, aber vorher kurz noch mal zu dem Fremden blickt. „Sie braucht vertraute Menschen um sich“, sagt Birgit Eiselt. „Dass sie sich noch mal umgeschaut hat, ist schon ein Erfolg.“

Das sind die schwierigen Fälle, aber der Effekt, die erhöhte Aufmerksamkeit, die große Lernbereitschaft, die ist bei allen Kindern zu beobachten. Am Beispiel des kleinen Lehmhügels im Park etwa. Der Lehm ist eine geologische Besonderheit, ungewöhnlich im märkischen Sand. Warum gibt es hier Lehm?, fragten die Kinder. „Und dann“, erzählt Anne Tlach, die auch ständig mit im Park ist, „haben die gegoogelt und in einem Biologiebuch nachgeschaut“. Unter Begleitung durch die Lehrer natürlich.

Mindestens dreieinhalb Stunden sind sie draußen, jeden Tag

Mit Stöcken im Boden graben.
Mit Stöcken im Boden graben.

© Kitty Kleist-Heinrich

Zehn Meter vom Lehmhügel entfernt legt Erzieher Thore Krietemeyer mit Kindern einen Stockkreis an. Die Jungen und Mädchen haben einen daumentiefen Kreis im Waldboden ausgehoben. Den füllen sie mit Zweigen und Ästen und verkleben ihn mit Lehm. Am Ende wird sich alles zu einem kreisrunden, knöchelhohen Windschutz auftürmen. Die Kinder werden dann am Ende eines Tages im Ring sitzen und erzählen, was sie erlebt haben. Diesen Ring hat Julius angesteuert, als er den Lehmhügel verlassen hat. Er will Zweige und Äste verkleben.

Elina trägt einen roten Sonnenhut auf den langen, blonden Haaren, die Achtjährige freut sich, „dass es hier Tiere gibt“. Ihre Sammlung umfasst bisher: Feuerkäfer, Tausendfüßler, Wanzen, Würmer. Neben ihr taucht Henni auf, sechs Jahre alt, grünes Kleid, weiße Jacke, ein Malbuch unterm Arm. Sie hat Benny gemalt, der an Zweigen gesägt hat.

Lesen, Schreiben, Rechnen stehen auch auf dem Stundenplan

Von circa 10 Uhr bis zum Mittagessen um 13.30 Uhr sind die Kinder im Wald. Der Schulalltag beginnt allerdings zwischen 8 und 8.30 Uhr, er basiert auf der Montessori-Pädagogik. Bis zum Ausflug in die Natur stehen die üblichen Themen auf dem Programm, Rechnen, Schreiben, Lesen. Nach dem Mittagessen ist Ruhezeit, dann gibt’s noch mal Unterricht, mal draußen, mal drin. Der Stoff orientiert sich an der ganz normalen Regelschule. „Von hier aus kann man sofort problemlos in eine andere Schule wechseln“, sagt Birgit Eiselt.

Neues Schulfach: Lebenskompetenz

Zwei Fächer freilich heben die Waldklasse von anderen Schulen heraus. „Kultur und Lebenskompetenz“ und „Natürliche Lebensräume“. Zur Lebenskompetenz gehört zum Beispiel Fahrradreparieren oder der Umgang mit Bohrmaschinen. Und natürliche Lebensräume erleben die Kinder jeden Tag im Wald. Die Fächer werden bewertet und tauchen im Zeugnis auf. „Wir haben sehr viel Unterstützung von der Senatsverwaltung für Bildung erhalten“, sagt Birgit Eiselt.

Zu den Erfolgsgeschichten der Waldklasse gehört auch jener Junge, den Anne Tlach bewundernd beobachtet hatte. Er hatte sich am Anfang, fast resignierend, mit den Worten vorgestellt: „Ich kann ja nichts. Ich habe eine Lese-Rechtschreibschwäche.“ Ein paar Tage später fand die Eröffnungsfeier der Waldklasse statt. Der Junge las dabei stolz einen Text vor.

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