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Schule: Das Lernen der Anderen

Zwei Abi-Jahrgänge, 1958 und 2008, des Gymnasiums zum Grauen Kloster haben gemeinsam eine Schülerzeitung geschrieben

Günter Reese war vor 50 Jahren einer der großen Schulstreich-Kreativen. Sein Meisterstück verlief so: Während einer Partie Tischhockey geriet ein Tintenfass ins Trudeln und kleckste auf den Boden. Der Lehrer, Herr Roß, befahl, den Fleck sofort zu entfernen. Daraufhin eilte Reese aus dem Klassenzimmer und kehrte mit einem vollen Wassereimer zurück, den er mit großem Schwung auf den Boden entleerte, so dass alle ihre Füße vor der großen Flut in Sicherheit bringen mussten. Den Rest der Stunde verbrachte Reese mit Feudeln. Auf die obligatorische Ohrfeige von Lehrer Roß schmiss er sich in theatralischer Pose auf den Boden und rief: „Das Pferd hat ausgeschlagen.“

Einen wie Günther Reese, Abiturjahrgang 1958, gibt es heute am Evangelischen Gymnasium zum Grauen Kloster in Schmargendorf nicht mehr. Fabian Herbst, der dort sein Abitur gerade hinter sich hat, kann sich an keinen Schulstreich klassischer Prägung erinnern. Es fehle an der nötigen Dosis Langeweile im Unterricht, autoritär agierenden Lehrern und dem Klassenbewusstsein der Schüler. Stattdessen: „Leistungsdruck, Chamäleon-Effekt, ein voller Terminkalender“, bilanzieren zwei Autoren der Schülerzeitung „Klostergeist“.

Wie hat sich Schule in einem halben Jahrhundert verändert? Dazu gibt es jetzt eine Einzelfallstudie. Unter dem Titel „Das war’s? Schulzeit zwischen Platon, Paulus und Presley“ haben Jung-Abiturienten und Ehemalige des Grauen Klosters eine gemeinsame Schülerzeitung produziert, eine „fusionierte“ Sondernummer von „Klostergeist“ und „Die Unvollendete“, wie die Schülerzeitung in den fünfziger Jahren hieß. Für dieses einmalige Projekt, in einem Dreivierteljahr von zwölf Jung- und Alt-Redakteuren erarbeitet, gab es einen Sonderpreis der Media Design Hochschule Kreuzberg.

„Wir wollten kein Erinnerungsbändchen von Jubilaren machen“, sagt Michael Jenne, ein Mitschüler des inzwischen verstorbenen Streiche-Spezialisten Günter Reese. Deshalb fragten die Abiturienten des Jahrgangs 1958 bei den Redakteuren des „Klostergeistes“ an, ob man nicht etwas Gemeinsames auf die Beine stellen sollte. Der Idee folgten unzählige Redaktionssitzungen, Artikelbesprechungen und E-Mails, bis die 60 Seiten druckfertig vorlagen.

Fabian Herbst hat sich durch das Projekt zum ersten Mal mit der erzieherischen Grundphilosophie der Schule auseinandergesetzt – er ist der Mitautor des Schwerpunkt-Artikels „Vom Wesen humanistischer Bildung“. Hatte er zu festen Ritualen der Schule – wie der wöchentlichen Andacht oder dem Aufstehen zur Begrüßung – bislang eine distanziert-kritische Haltung eingenommen, ist er jetzt überzeugt, dass alles im Großen und Ganzen richtig war. Die Besinnung auf christliche Werte und Rituale werde künftig eher noch wichtiger, meint Herbst, der Jura studieren will.

Die gemeinsame Sondernummer der Schülerzeitschrift haben die Abiturienten parallel zu den Prüfungen gestemmt – und überdies noch eine öffentliche Präsentation organisiert, mit Podiumsgesprächen und Musikeinlagen. So viel Eigenverantwortung wäre in der Schulzeit von Jenne undenkbar gewesen – allerdings habe es damals schon Ansätze dazu gegeben: „Wir haben das erkämpft, bis zu einem gewissen Grad“, sagt Jenne, der 1955 als erster Schüler des Gymnasiums zu einem Austauschjahr in die USA reiste – damals noch per Schiff.

Der Unterricht sei heute besser als vor 50 Jahren, findet Jenne. Deutlich werde das besonders in den alten Sprachen Griechisch und Latein, die zum Profil der Schule gehören. Früher wurde gepaukt und abgefragt – auf das Textverständnis legten die Lehrer kaum Wert. Heute folgt nach der Analyse die Diskussion. Beliebt sind die „toten Sprachen“ bei vielen Schülern aber deshalb noch lange nicht. Nach der letzten Stunde Altgriechisch gibt es gelegentlich kleine Bücherverbrennungen auf dem Schulhof.

Für Alt-Redakteure wie Michael Jenne hat die Arbeit an der Sondernummer zu einer Wiederannäherung an die Schule geführt – über Jahrzehnte war bei ihm der Kontakt völlig abgerissen. Jung-Redakteur Fabian Herbst hat sich vor allem über die Offenheit gefreut, mit der die erfahrenen Alt-Abiturienten ihnen, den Novizen im Studien- und Berufsleben, begegneten. Als das Heft schon fertig war, fiel Jenne noch eine Frage ein, die – obwohl naheliegend – in den vielen Redaktionssitzungen gar nicht aufgekommen war: „Wie hältst du es mit der Tradition?“ Das Graue Kloster ist schließlich eine der ältesten Bildungsstätten der Stadt, 1574 gegründet, im Zweiten Weltkrieg zerstört und 1963 durch Traditionsübertragung auf das evangelische Gymnasium wiederbelebt. Jenne schrieb eine E-Mail mit dieser Frage an die Jung-Redakteure – es kamen keine Antworten. Vielleicht haben sie in 50 Jahren mehr dazu zu sagen. Thomas Loy

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