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In Berlin greifen 6,7 Prozent der Neuntklässler mehrmals im Monat zu Cannabis oder Haschisch.

© Kai-Uwe Heinrich

Drogenbeauftragte: "An jeder Berliner Schule gibt es Cannabis"

Gerade in gutbürgerlichen Gegenden kiffen viele Jugendliche, berichten Schülersprecher und Drogenbeauftragte. Und jeder Zehnte bekommt Probleme mit seinem Konsum.

„Reagieren Sie nicht panisch.“ Diesen Rat bekamen Davids Eltern in einer Berliner Suchtberatungsstelle vor zwei Jahren. „Ihr Sohn kifft, aber das mit dem Cannabis wächst sich aus. Lassen Sie ihn los.“ Davids Eltern ließen los und glaubten an eine vorübergehende Phase im Leben des 17-Jährigen. Doch der Schüler verheimlichte das Ausmaß seiner Sucht vor den Eltern und schwänzte monatelang die Schule. Bis er zusammenbrach und in die Kinder- und Jugendpsychiatrie eingeliefert werden musste.

Davids Fall beschäftigt nun Andreas Gantner. Der Psychologe und Psychotherapeut leitet den Schöneberger Therapieladen, der sich auf die Bekämpfung von Cannabis-Sucht spezialisiert hat. Cannabis, sagt Gantner, sei längst „Entwicklungsnormalität“ für Berliner Schüler. Zehn bis dreißig Prozent unter ihnen würden gelegentlich kiffen, nachmittags zu Hause oder sogar schon vor der Schule. Bei den meisten höre das irgendwann auf, sagt Gantner. „Aber jeder zehnte bekommt Probleme mit dem Konsum“, fünf davon so massiv, dass sie Therapie-Bedarf haben.

Keine andere Droge wird laut Bundeskriminalamt häufiger in Deutschland konsumiert als Cannabis. Während allerdings im Bundesdurchschnitt nur 4,1 Prozent aller Neuntklässler mehrmals im Monat zu Haschisch und Marihuana greifen, sind es in Berlin 6,7 Prozent. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Vor fünf Jahren waren es nur 5,6 Prozent aller Neunt- und Zehntklässler. Das ist zumindest das Ergebnis der ESPAD-Studie, in der 2006 europaweit Schüler zu Alkohol und anderen Drogen befragt wurden. Heute ist sich die Berliner Drogenbeauftragte Christine Köhler-Azara sicher: „Es gibt keine Schule in Berlin, an der man es nicht bekommt.“

Köhler-Azara glaubt allerdings nicht, dass der Konsum in allen Altersklassen steigt: „Eigentlich stagniert er auf hohem Niveau.“ Den Anstieg der Zahlen erklärt sie damit, dass der erste Joint immer früher probiert wird. Das bestätigt auch die neue Studie des Kriminologischen Instituts, nach der das Einstiegsalter für Cannabis zwischen 15 und 16 Jahren liegt. Bereits im Alter von 18 Jahren haben es 36 Prozent der Jugendlichen probiert, sagt Andreas Gantner, „bis 25 ist es jeder zweite.“

Cannabis als Alltagsdroge kennt auch der 18 Jahre alte Schülersprecher eines Gymnasiums in Prenzlauer Berg. „In den Pausen bilden sich Trauben von Rauchern vor der Schule, auch Kiffer sind darunter.“ In den Gesprächen gehe es etwa darum, „Zehner zu rauchen.“ Gemeint ist damit Cannabis für zehn Euro. Irgendwann sei jedoch auch das vielen nicht mehr genug, der Konsum werde teurer. Deshalb werde besonders häufig auf dem Gymnasium gekifft. „Dort, wo die Elternhäuser gut situiert sind.“

Cannabis-Konsum öffnet Jugendlichen den Zugang zu einer sogenannten „coolen Gruppe“, in der sie als erwachsen gelten, sagt die Drogenbeauftragte Köhler-Azara. Allerdings würden häufig Konzentrationsprobleme und Antriebslosigkeit entwickelt. Und irgendwann mache Kiffen nicht mehr euphorisch: „Dann wird aus einer lieben Gewohnheit eine alltagsbestimmende Droge.“

Warum Kiffen an Schulen tabuisiert wird, lesen Sie auf der nächsten Seite.

Gesprochen werde darüber selten, sagt Landesschülersprecher Jonas Botta vom Werner-von-Siemens-Gymnasium in Steglitz-Zehlendorf: „Kiffen an Schulen wird tabuisiert.“ Es heiße, Cannabis-Konsum betreffe ohnehin nur Brennpunktschulen in Neukölln oder Moabit. Den Grund für das Schweigen sieht der 18-Jährige darin, „dass so etwas kein gutes Licht auf die Schulen wirft“.

Eine Schülerin aus einem Gymnasium in Charlottenburg-Wilmersdorf berichtet, dass es schon in der neunten Klasse sogenannte Ticker unter den Schülern gebe, die ihre Altersgenossen mit Nachschub versorgen. „Dabei sind wir im Unterricht noch nicht einmal über die Gefahren aufgeklärt worden“, so die Schülerin.

Das genau hätte aber passieren müssen. An jeder Berliner Schule arbeitet ein Kontaktlehrer für Suchtprophylaxe. Er wurde geschult, Anzeichen für Drogenmissbrauch zu erkennen, Schüler darauf anzusprechen und aufzuklären. Er kann Eltern informieren und anderen Lehrern helfen, wenn Kiffen zum Thema wird.

Es wäre „wünschenswert“, wenn die beschriebenen Maßnahmen eingehalten würden, sagt allerdings Inga Bensieck, stellvertretende Leiterin der Berliner Fachstelle für Suchtprävention. „Aber häufig passiert einfach gar nichts.“

Dann sitzen Schüler bekifft im Unterricht, ohne dass die Schule reagiert. „Ein Cannabis-Fall entwickelt sich über drei, vier Jahre, bis es zu spät ist“, sagt Bensieck. Gerade in „Wohlstandsgegenden“ würden die Leute dazu neigen, wegzusehen. In Brennpunktschulen seien die Lehrer hingegen sozial geschulter und würden eher darauf reagieren. Doch auch Bensieck weiß, wie brisant es sein kann, Cannabis-Konsum zu thematisieren: „Die Schulen wollen nichts damit zu tun haben, weil sie Angst um ihren Ruf haben.“

Wird jedoch erst eingegriffen, wenn es bereits zu spät ist, greifen die Schulen zu Sanktionen wie einem Schulverweis, sagt Köhler-Azara. „Dass ein Schüler, der Probleme mit dem Kiffen hat, auch noch aus seinem sozialen Gefüge gerissen wird, macht das Problem aber eher schlimmer“. Wenn an der neuen Schule der Grund für den Wechsel die Runde mache, „wird er ausgegrenzt“.

Auch Eltern sollten laut Köhler-Azara ein Auge darauf haben, ob ihr Nachwuchs kifft – auch wenn Cannabis in vielen Elternhäusern nicht mehr „verteufelt“ werde. „Wer damit aufgewachsen ist, sagt sich, dass es ihm ja auch nicht geschadet hat.“ Dennoch rät Köhler-Azara, Kinder darauf anzusprechen, wenn Eltern Veränderungen wie plötzliche Geldprobleme oder einen veränderten Freundeskreis bemerken, „neugierig, nicht vorwurfsvoll.“

Bei den meisten Jugendlichen werden irgendwann andere Dinge wichtiger als der Joint: Die Schule, die erste Beziehung. „Die meisten merken, dass Kiffen sie nicht weiterbringt“, sagt Köhler-Azara. Die Aussichten seien sonst nicht gerade verlockend: „Cannabis lenkt davon ab, sich ein Leben als Erwachsener aufzubauen.“

Das wird David gerade noch schaffen, glaubt Therapeut Andreas Gantner: „Er geht immerhin wieder zur Schule.“

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