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Eine Begrüßung von Erich Kästner: Liebe Kinder!

Da sitzt Ihr nun, alphabetisch oder nach der Größe sortiert, zum ersten mal auf diesen harten Bänken, und hoffentlich liegt es nur an der Jahreszeit, wenn Ihr mich an braune und blonde, zum Dörren aufgefädelte Steinpilze erinnert. Statt an Glückspilze, wie sich’s eigentlich gehörte.

Da sitzt Ihr nun, alphabetisch oder nach der Größe sortiert, zum ersten mal auf diesen harten Bänken, und hoffentlich liegt es nur an der Jahreszeit, wenn Ihr mich an braune und blonde, zum Dörren aufgefädelte Steinpilze erinnert. Statt an Glückspilze, wie sich’s eigentlich gehörte.

Früchtchen seid ihr, und Spalierobst müsst ihr werden! Aufgeweckt wart ihr bis heute, und einwecken wird man euch ab morgen! Vom Baum des Lebens in die Konservenfabrik der Zivilisation. Das Leben nach der Uhr beginnt, und es wird erst mit dem Leben selber aufhören. Das aus Ziffern und Paragraphen, Rangordnung und Stundenplan eng und enger sich spinnende Netz umgarnt nun auch euch.

Damit wären wir schon beim wichtigsten Rat angelangt, den ihr euch einprägen solltet: Lasst euch die Kindheit nicht austreiben! Schaut, die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun?

Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch. Der Lehrer weiß nicht alles, und er kann nicht alles wissen. Wenn er trotzdem allwissend tut, so seht es ihm nach, aber glaubt es ihm nicht! Gibt er hingegen zu, dass er nicht alles weiß, dann liebt ihn! Denn dann verdient er eure Liebe. Und noch eines: Der Lehrer ist kein Zauberkünstler, sondern ein Gärtner. Er kann und wird euch hegen und pflegen. Wachsen müsst ihr selber!

Nehmt auf diejenigen Rücksicht, die auf euch Rücksicht nehmen! Das klingt selbstverständlicher, als es ist. Seid nicht zu fleißig! Bei diesem Ratschlag müssen die Faulen weghören. Es gilt nur für die Fleißigen, aber für sie ist er sehr wichtig. Das Leben besteht nicht nur aus Schularbeiten. Der Mensch soll lernen, nur die Ochsen büffeln. Liebe Eltern, wenn Sie etwas nicht verstanden haben sollten, fragen Sie Ihre Kinder!

Diesen Beitrag des deutschen Schriftstellers Erich Kästner (1899 – 1974) entnahmen wir mit Genehmigung dem diesjährigen Jahrbuch „SOS Kinderdörfer Weltweit“ (www.sos-kinderdoerfer.de/publikationen).

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