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Der erste Schultag ist für manche mit großer Angst verbunden. Und bei den Allerjüngsten kann aus der Angst regelrechte Panik werden.

© dpa

Erstklässler in Berlin: Sie sind doch erst fünf

Sie schrie wie am Spieß und wehrte sich, sie wollte noch nicht in die Schule. Aber in Berlin werden Kinder schon vor ihrem sechsten Geburtstag eingeschult. Für viele ist das zu früh. Und für manche der Beginn eines familiären Dramas.

Von Barbara Nolte

Auf dem Klassenfoto vom Einschulungstag ist Mia noch drauf. Sie steht am Rand, mit Tränen in den Augen. Als die Lehrerin die Kinder in Zweierreihen zur ersten Unterrichtsstunde in ihr neues Klassenzimmer führte, weigerte sich Mia mitzugehen. Das Mädchen schrie wie am Spieß. Stefanie Schmidt, Mias Mutter, trug, zerrte, schob sie hinter den anderen Kindern her. Stefanie Schmidt erinnert sich an eine Mischung aus Mitleid, Hilflosigkeit, Wut auf die Tochter, die sie empfand, weil Mia sich so massiv wehrte. Als sie vor der Klassentür ankamen, forderte die Lehrerin Mia auf hereinzukommen. „Wir wollen anfangen.“ Die Mutter bat darum, die Tochter begleiten zu dürfen. Die Lehrerin erwiderte: „Das Kind muss das alleine schaffen.“ Doch das Kind war so außer sich, dass es nichts mehr mitbekam. Stefanie Schmidt sagt, dass die Lehrerin einfach die Klassentür vor ihnen zugemacht habe.

Die Strategie, mit der die Schmidts am darauffolgenden Montag, Mias erstem regulären Schultag, die so offensichtlichen Trennungsängste ihrer Tochter bekämpfen wollten, scheiterte schon am Schultor. Mia klammerte sich mit aller Kraft daran fest. Der Vater sollte sie diesmal abgeben. Letztlich verbrachte er den Tag entweder mit einem schreienden Kind – das passierte, sobald sie das Schulhaus betraten – oder mit einem vom Schreien erschöpften Kind, auf das er auf dem Schulhof einredete, es doch wenigstens einmal zu versuchen mit dem Unterricht. Am Nachmittag nahm er, wieder zu Hause, völlig entnervt der Tochter eines der Geschenke ab, das sie zur Einschulung bekommen hatte.

Video: Wie zufrieden sind die Berliner mit den Schulen?

„Mein Mann begriff erst nicht, in welcher Not Mia sich befand“, sagt Stefanie Schmidt. Sie ist von Beruf Sozialpädagogin, ihr Mann arbeitete damals im Vertrieb einer Computerfirma. Heute ist er Unternehmensberater. Die Familie bewohnt ein Townhouse in Weißensee. Roter Klinker, steile Treppen, im ersten Stock ein Wohnzimmer mit offener Küche. Dort sitzt Mia, mittlerweile acht. „Das Schulgebäude war so riesig“, sagt sie. „Alles war fremd. Ich hatte Angst davor. Da waren so viele Kinder, so große Jungs.“ Sie wurde krank, litt unter Bauchschmerzen und Durchfall. Mia ist nicht ihr richtiger Name. Auch die anderen Betroffenen der Geschichte sind anonymisiert.

Stefanie Schmidt breitet Kopien auf dem Tisch aus, Dokumente ihres Kampfes mit den Berliner Behörden, ein Kind aus der Schule herauszuholen, das in jedem anderen Bundesland ohnehin noch ein weiteres Jahr im Kindergarten geblieben wäre. Mia war damals fünf Jahre alt und noch so klein, dass sie weder die Schultür noch die Tür zur Toilette aus eigener Kraft aufbekam. „Mia war schlicht und ergreifend noch nicht schulreif“, sagt Stefanie Schmidt.

Doch die Eigenschaft „schulreif“ gibt es in Berlin nicht mehr. Im Jahr 2005 wurde sie durch „schulfähig“ ersetzt. Seitdem gilt die Entwicklung eines Kindes nicht mehr als natürlicher Prozess, sondern als herstellbar. Frauke Meister erzählt, wie ihr Sohn Freddy bei der schulärztlichen Untersuchung „total unkoordiniert“ die Aufgaben angegangen sei. Sogar die Ärztin habe grinsen müssen. Dennoch landete er im Jahr drauf in der Schule. Die Mutter empfand seinen Anblick damals als rührend: „So ein kleiner Kerl mit so einer riesigen Schultasche.“ Freddy war noch fünf, er wurde erst nach den Herbstferien sechs Jahre alt. Doch Freddy gefiel es in der Schule. Er fand schnell Freunde. Auch das erste Zeugnis des Sohnes beruhigte Frauke Meister. Anfangs habe er „die schulischen Anforderungen eher zögernd“ bewältigt, stand da, aber im Lauf des Jahres „ein Zutrauen“ entwickelt, das sich „auf seine Leistungsbereitschaft positiv“ ausgewirkte habe.

Im Zeugnis stehen lauter nette Sachen - doch zwischen den Zeilen verstecken sich Warnungen.

Frauke Meister sitzt in einem Café in Charlottenburg. Sie kommt gerade von ihrer Arbeit in einem Friseursalon um die Ecke. Vor ihr liegen Freddys in Klarsichthüllen eingepackte Zeugnisse. Manchmal, sagt sie, habe sie sich schon gewundert, wie laut es damals in Freddys Klasse zugegangen sei. Die Eltern seien sich einig gewesen, dass die meisten Kinder den Unterschied zwischen Schule und Kindergarten nicht begriffen hätten. Später war sie immer wieder verblüfft, wie schlecht ihr Sohn las. Doch in seinem zweiten Zeugnis stand, dass Freddy sich beim Lesen „bemüht“ und „große Fortschritte“ erzielt. Frauke Meister blättert durch die Zeugnismappe. Da steht zum Beispiel: „Freddy schreibt Texte meist fehlerfrei ab.“ Das könnte auch andeuten, dass er viele Fehler macht, wenn er Texte selbst verfassen soll. „Im Nachhinein“, sagt Frauke Meister, „denke ich, dass ich aus den Beurteilungen etwas hätte herauslesen können.“ Doch sie sei eben „keine professionelle Schriftdeuterin“, und die Lehrer hätten kein Gespräch mit ihr gesucht.

Die erste Note, die Freddy nach Hause brachte – er ging bereits in die vierte Klasse, an seiner in Wilmersdorf gelegenen Schule wurden vorher keine Zensuren vergeben – war eine Sechs. Er bekam sie in Deutsch. „Ich habe erst mal geheult“, sagt Frauke Meister. Dann tröstete sie den Sohn. Sie habe ihren verspielten Jungen doch nur eingeschult, sagt sie, weil sie dem Motto Glauben geschenkt habe, mit dem die Schulreform von 2005 propagiert wurde: Das Kind werde dort abgeholt, wo es stehe. „Mit einem Mal war klar: Der stand in der vierten Klasse immer noch da. Niemand hatte den abgeholt.“

Mit der Reform, die im selben Jahr in Kraft trat, in dem Freddy eingeschult wurde, reagierte Berlin auf die schlechten Ergebnisse der Pisa-Studie. Seither gehen die Kinder mit fünfeinhalb Jahren zur Schule anstatt mit sechs. Stichtag ist der 31. Dezember. Er liegt so spät im Jahr wie in keinem anderen Bundesland. Sprachlich wenig geförderte Kinder sollen möglichst früh ihre Sprachkompetenzen verbessern. Das frühe Einschulungsalter wird damit flankiert, dass die ersten und zweiten Klassen zu jahrgangsübergreifendem Lernen, JüL, zusammengefasst sind. Erweist sich ein Kind als noch nicht schulfähig, bleibt es ein Jahr länger im JüL.

Doch die Reform schafft neue Problemfälle. Eine Studie, bei der 10 000 Schüler in Hessen verglichen wurden, ergab, dass besonders früh eingeschulte Kinder deutlich seltener eine Empfehlung fürs Gymnasium erhalten. Und selbst hochbegabten Kindern bereitet eine frühe Einschulung mitunter im späteren Leben Probleme. Jedenfalls legt das eine alte amerikanische Langzeitstudie nahe, bei der 1500 überdurchschnittlich intelligente Kinder des Jahrgangs 1910 durchs Leben begleitet wurden. Diejenigen, die mit fünf in die Schule gekommen waren, hatten als Erwachsene häufiger „mentale Anpassungsschwierigkeiten“ und neigten eher zu Alkoholmissbrauch. Letztlich starben sie sogar früher. Doch nur im Durchschnitt. Viele der frühreifen Probanden führten trotzdem ein langes und gesundes Leben.

Hans Merkens, Professor für Erziehungswissenschaft an der FU, findet, dass „im Prinzip“ gegen eine Vorverlegung des Einschulungsalters nichts spreche. Nur müssten die Bedingungen an den Schulen, das Raumangebot und die Qualifikation der Lehrer auf kleinere Kinder zugeschnitten werden. Die Schulen mühen sich, sich auch für die Jüngsten als freundliche Orte zu präsentieren. Am vergangenen Freitag und Samstag haben sie zum Beispiel wieder ihre aufwendigen Einschulungsfeierlichkeiten organisiert, auf denen ältere Schüler den Neulingen und deren Eltern Tanzeinlagen vorführten. Und in JüL-Klassen werden den Schulanfängern ältere Kinder als Paten zur Seite gestellt.

In Kitas wird erwartet, dass sich die Eltern wochenlang freinehmen, um ihre Kinder einzugewöhnen.

An der Schule, die Mia Schmidt besuchen sollte, gab es vor der Einschulung sogar einen Kennenlerntag. Die Lehrerin führte die Neuen mit dem Versprechen, dass sie es sich jetzt „schön“ machten, in die Turnhalle. Stefanie Schmidt wartete mit anderen Müttern auf einer Bank. Plötzlich sah sie die Lehrerin aus der Turnhalle kommen, die schreiende Mia an der Hand. Die Lehrerin fragte die Mutter, ob „so etwas“ öfter vorkomme. Dann müsse man „therapeutisch etwas machen“. Die Schule, eine andere Welt. In Berlins Kitas wird erwartet, dass sich die Eltern wochenlang freinehmen, um ihre Kinder einzugewöhnen. In den Schulen gilt ein kaum älteres Kind, das eine neue Umgebung nur einen Tag lang als bedrohlich erlebt, als psychisch behandlungsbedürftig.

In Mias zweiter Schulwoche ließ sich Stefanie Schmidt tatsächlich einen Termin beim Schulpsychologen geben. Mia war immer noch von Panikattacken geplagt, und die Mutter „inzwischen wild entschlossen“, wie sie es ausdrückt, ihr Kind wieder von der Schule zu nehmen. Doch das ist in Berlin verboten, wenn ein Kind erst einmal dort ist. Stefanie Schmidt fand einen Passus, der besagt, dass in begründeten Einzelfällen ein Kind nach der Einschulung von der Schulbesuchspflicht befreit werden könne. Doch dafür brauchte sie ein Gutachten des Schulpsychologen, der sich zunächst jedoch als wenig kooperativ erwies. Wenn Mia jetzt schon zur Schule gehe, sagte er, könne sie früher Abitur machen und studieren.

Beim zweiten Termin mit dem Psychologen nahm Stefanie Schmidt ihren Mann mit, der mittlerweile der Tochter ebenfalls unbedingt helfen wollte. Auf seinen Rat hin legten sie sich einige Argumente zurecht, die sie unbeirrt von den Nachfragen des Psychologen wiederholen wollten. „Wie eine Schallplatte“, sagt Stefanie Schmidt. Der Psychologe gab nach, er schrieb das Gutachten, und Mia konnte nach den „Horrorwochen“, wie die Mutter sagt, zurück in ihre alte Kita.

Freddy Meister litt ein ganzes Jahr. Seine Noten wurden kaum besser. „Ich dachte, der zerbricht mir“, sagt die Mutter. Auch sie wendete sich an den schulpsychologischen Dienst. Sie wollte kein Gutachten, sondern guten Rat. Sie beschrieb ihren Sohn, schilderte seine Nöte. Der Psychologe sagte am Telefon, dass der Junge womöglich an ADHS leide, der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, die man gut mit Medikamenten behandeln könne. Frauke Meister legte auf.

Mutter und Sohn beschlossen, dass Freddy die vierte Klasse wiederholen sollte. Er habe es als wenig ehrenrührig empfunden, sagt Frauke Meister, denn einige seiner ehemaligen Klassenkameraden besuchten bereits die Klasse darunter. 16 Prozent der Berliner Kinder verbringen drei Jahre in der Schulanfangsphase anstatt zwei. „Genauso wie die Kinder heute hinnehmen, dass die Eltern sich trennen, akzeptieren sie, dass sie in der Grundschule sitzenbleiben“, sagt Frauke Meister.

Wann ist ein Kind schulreif? - Mit dem Alter hat es jedenfalls nichts zu tun.

Außerdem meldete sie den Sohn in einer Nachhilfeschule an, dem „Lernwerk“, obwohl die 90 Euro, die sie das monatlich kostete, ihr Friseurinnengehalt belasteten. Freddys Noten wurden deutlich besser. „Er hat die Lautverbindungen nicht richtig herausgehört“, sagt Swantje Goldbach. Deshalb sei er in Deutsch so schlecht gewesen. „Das sei Stoff der ersten Klasse, der nicht aufgeholt wird.“ Swantje Goldbach ist Gründerin des „Lernwerks“. 1600 Schüler bekommen dort zurzeit Nachhilfe. „So viele Grundschüler wie jetzt hatten wir noch nie.“ Goldbach ist eine vehemente Gegnerin der Herabsetzung des Einschulungsalters. Schulreif, sagt sie, sei ein Kind, wenn es eine Aufforderung befolgen könne: beispielsweise in seinem Zimmer Socken zu holen und anzuziehen. Lasse sich ein Kind zwischendurch ablenken, bleibe es besser im Kindergarten. Ihr jüngeres Kind wird von heute an eine Waldorfschule besuchen. Die anthroposophische Lehre, nach der diese Schulform ausgerichtet ist, hält Kinder sogar erst mit sieben Jahren für schulreif.

Ilka Hüneröder, Schulärztin am Gesundheitsamt Charlottenburg-Wilmersdorf, erlebt immer häufiger Eltern, die erwägen, ihr Kind später in die Schule zu schicken. Auch sie bemerkt als Ärztin einen deutlichen Unterschied in der Reife zwischen fünf- und sechsjährigen Kindern. Ältere Kinder seien in ihrer Leistung nicht unbedingt besser, sagt sie, aber sicherer, schneller, strukturierter.

Für fast 18 000 Berliner Kinder ist heute der erste reguläre Schultag. Mia Schmidt geht mittlerweile in die dritte Klasse. Sie besucht eine andere Schule. Doch ihre Erfahrungen bei ihrer ersten Einschulung blieben lange für sie traumatisch. Lange konnte sie keine Kinos oder Theatersäle besuchen. In dunklen, mit vielen Menschen bevölkerten Räumen bekam sie Angst. Mia machte eine Therapie. Im Rollenspiel mit Stofftieren sollte sie lernen, gegen ihre Ängste anzugehen. „Eine schwarze Fledermaus war die Angst. Zusammen mit einem Plüschpudel sollte ich versuchen, die Angst zu besänftigen“, sagt sie.

Mia Schmidt ist ein selbstbewusstes Mädchen mit Jeans und blonden, lockigen Haaren. Sie ist eine sehr gute Schülerin und wurde am Montag vergangener Woche sogar zur Klassensprecherin gewählt. Im vergangenen Jahr hatte sie eine kleine Patin in ihrer JüL-Klasse: ein Mädchen, das, ähnlich wie sie damals, nach ihrer Mutter weinte. Mia erzählt, dass sie die Schulanfängerin die Pausen über an der Hand halten musste, denn sie hatte Angst vor großen Jungs. Sie war ja auch erst fünf.

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