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Rund die Hälfte der Besucher in der Topographie des Terrors sind Schüler.

© Thilo Rückeis

Gestapo als Unterrichtsthema: Schülern fehlt wichtiges Fachwissen

Kaum waren die Nazis 1933 an der Macht, schufen sie die Gestapo. Knapp 80 Jahre später spielt der nationalsozialistische Apparat im Schulunterricht kaum noch eine Rolle – und das, obwohl die Schüler Interesse am Thema haben.

Von der Sprachwoche in Berlin nimmt Anouk aus Allaire in der Bretagne auf ihrem Handy auch ein paar Bilder von der Gestapo mit. Für ihr Reisetagebuch knippst die 14-Jährige die Schwarz- Weiß-Aufnahme des ehemaligen Hauptquartiers in der Prinz-Albrecht-Straße 8, heute Niederkirchner Straße in Kreuzberg, von wo aus sich die Gestapo seit ihrer Gründung vor 80 Jahren, am 26. April 1933, zu einer der zentralen Institutionen des nationalsozialistischen Terrorapparates entwickelt hat.

Heute ist dort die Topographie des Terrors mit ihrer umfangreichen Ausstellung. Für Schüler aus ganz Deutschland und aus anderen europäischen Ländern sind außerschulische Lernorte wie die Topographie des Terrors eine wichtige, manchmal die erste und manchmal die einzige Anlaufstelle geworden, um sich im Detail und in ihrer Komplexität über die nationalsozialistischen Institutionen zu informieren, die die Verfolgung politischer Gegner, die Folter, Terror und die Ermordung der europäischen Juden organisierten. 62 000 Personen nahmen im Jahr 2012 in der Topographie des Terrors an einer Führung durch die Ausstellung teil, rund die Hälfte davon waren Schüler. Wegen der großen Nachfrage bei gleich bleibender Finanzierung wurden die kostenlosen Führungen seit März gedeckelt. Statt 350 Führungen pro Monat bietet man derzeit 200 Führungen an. Bis in den Juni sind die Termine ausgebucht. Andreas Sander, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Topographie des Terrors, spricht von einem „prekären Jahr“. Demnächst soll mit dem Senat über den weiteren Betrieb verhandelt werden.

Begehrt: Die Führungen auf dem Gelände der Topographie des Terrors, wo sich die Zentralen von SS und Gestapo befanden, sind bis Juni ausgebucht. Rund die Hälfte der Besucher in der Niederkirchner Straße sind Schüler.
Begehrt: Die Führungen auf dem Gelände der Topographie des Terrors, wo sich die Zentralen von SS und Gestapo befanden, sind bis Juni ausgebucht. Rund die Hälfte der Besucher in der Niederkirchner Straße sind Schüler.

© Thilo Rückeis

Im Schulunterricht ist oft wenig Zeit oder das nötige Fachwissen nicht vorhanden, sagt Historiker Jan Martin Ogiermann, der regelmäßig Schülergruppen durch die Ausstellung führt. Über Begriffe wie „Polizei“, „Beamter“, „Partei“, „Terror“ und „Politik“ versucht er für die Schüler den Bezug zur Gegenwart herzustellen. Er will ihnen vermitteln, welche Bedeutung eine Institution bekommen kann. Die Gestapo weitete ihre Kompetenzen aus wie keine Polizei zuvor. Sie war aber nicht die omnipotente Organisation, als die sie sich selbst gerne präsentierte. Ohne Informationen aus der Bevölkerung und die vielen Denunziationen wäre eine Verfolgung in diesem Ausmaß nicht möglich gewesen.

In den Geschichtslehrbüchern wird der nationalsozialistische Apparat nicht sehr ausführlich vermittelt, sagt Thomas Sandkühler, Professor für Geschichtsdidaktik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Oft sei von „der SS“ oder „Einsatzgruppen“ die Rede, die mittlere und untere Ebene der deutschen Apparate und ihre Rolle in den nationalsozialistischen Verbrechen kämen oft nicht vor. Die Gestapo werde, wenn überhaupt, meist vor dem Ausbruch des 2. Weltkrieges thematisiert, die Beteiligung an den Massenmorden in den sogenannten Ostgebieten sei vielen Schülern gar nicht bewusst. Dabei hätten, das zeigen Studien, Schüler Interesse zu erfahren, was wie passiert ist und warum. Ermüdung der Schüler entstehe hingegen, wenn Medien oder der eigene Geschichtslehrer zuerst eine moralische Bewertung von ihnen einfordern statt Inhalte zu vermitteln.

Bei der Topographie des Terrors werden für Schüler jene Angebote besonders häufig gebucht, die auf den Handlungsspielraum der Täter im Nationalsozialismus abzielen.
Bei der Topographie des Terrors werden für Schüler jene Angebote besonders häufig gebucht, die auf den Handlungsspielraum der Täter im Nationalsozialismus abzielen.

© Thilo Rückeis

Frank Rudolph, Sprecher des Berliner Philologenverbandes, lässt seine Oberstufenschüler am Andreas-Gymnasium in Friedrichshain abstimmen, welche Schwerpunkte sie neben festen Themen wie dem Holocaust im Unterricht besprechen wollen. Vier bis sechs Wochen hat er in der 9. Klasse im Geschichtsunterricht für den Themenkomplex Nationalsozialismus, ein Besuch eines außerschulischen Lernortes ist dazu vorgesehen. Am häufigsten gewählt würden Widerstandsbewegungen und die Frage der Täterschaft Deutschlands aus heutiger Sicht. Die Gestapo werde in ihrer Funktion als Werkzeug des Regimes erklärt, sei im Unterricht aber kein Einzelthema. Es werde diskutiert, was der einzelne tun konnte und welche persönlichen Ängste um Beruf und Familie mitspielten.

Auch bei der Topographie des Terrors werden für Schüler jene Angebote besonders häufig gebucht, die auf den Handlungsspielraum der Täter im Nationalsozialismus abzielen. Die Schüler sollen sich in Verfolgte wie auch Täter hineinversetzen. Verschiedene Perspektiven werden aufgezeigt: etwa Teile der Bevölkerung, die sich gegen Denunziation entschieden haben oder auch Gestapo-Beamte, die ihren Handlungsspielraum nutzten, um Verfolgte laufen zu lassen. „In welchen Machtstrukturen stecke ich?“ sollen sich die Schüler schließlich fragen.

Zuerst beklagen die Schüler oft, sie müssten sich ständig mit dem Thema befassen, berichtet Ogiermann. Im Laufe der Führung würden sie dann aber bemerken, dass es noch viel mehr zu lernen gibt.

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