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Schulsport

© Kitty Kleist-Heinrich

Grundschüler: Vor der Einschulung geht’s zur Therapie

Experten beklagen mangelnde geistige und körperliche Fähigkeiten bei Kindern. Viele Grundschüler können nicht rückwärts laufen oder auf einem Bein stehen.

Sie können keinen Stift halten, sich nur mühsam ausdrücken und sitzen vor dem Fernseher – viele Grundschüler können auch nicht sicher rennen oder klettern. Allein in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres bezahlten die Krankenkassen in Berlin deshalb rund 19 000 Ergotherapien und mehr als 17 000 Sprachtherapien – das sollen doppelt so viele sein wie 2005.

Auch bei Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) und in der Senatsgesundheitsverwaltung weiß man um die Defizite. „Die Sprachförderung wurde in den vergangenen Jahren extra ausgeweitet“, heißt es bei Zöllner. Der Verband der Berliner Kinderärzte schätzt, dass bereits jedes vierte Kind zwischen zwei und sechs Jahren eine logopädische oder ergotherapeutische Behandlung verordnet bekommt, damit es überhaupt in der Schule bestehen kann. Dass die Zahl der Berliner Kinder mit auffälligen Bewegungs- und Sprachdefiziten allerdings rasant steige, bestätigt die Senatsgesundheitsverwaltung vorerst nicht. Die offiziellen Gesundheitsdaten der Erstklässler für das laufende Schuljahr lägen noch nicht vor, sagt eine Sprecherin von Senatorin Katrin Lompscher (Linke). Nach ihren bisherigen Unterlagen gab es in den vergangenen Jahren aber nur wenig Veränderungen – der Anteil der Kinder, die Sprachschwierigkeiten hätten, sei mit 25 Prozent stabil, ebenso der Fernsehkonsum. Den Senatsdaten von 2008 zufolge sah jedes zehnte Berliner Grundschulkind mehr als zwei Stunden täglich fern, fast jedes sechste verfüge über einen eigenen Fernseher.

Das macht vielen Sportfunktionären Sorgen. „Viele Kinder haben kaum noch eine richtige Alltagsmotorik. Sie werden oft zur Schule gefahren und sitzen dann vor dem Fernseher oder Computer“, sagt Heiner Brandi, der beim Landessportbund für die Jugend zuständig ist. „Der Schulsport reicht da nicht aus, viele Grundschüler können nicht einmal mehr sicher rückwärts laufen oder auch nur auf einem Bein stehen.“

Amtsarzt Thomas Abel aus Mitte fasst es so zusammen: „Wer niemals an einer Blume richtig riecht, auf keinen Baum klettern darf, keine Schere in die Hand bekommt oder einfach mal über Wiesen toben kann, dem gehen entscheidende Erfahrungs- und Entwicklungschancen verloren.“ Sprechen lerne man nicht vor dem Fernseher, die Kinder müssten sich selbst und die Umwelt im richtigen Leben wahrnehmen „um abrufbare Assoziationen und innere Bilder zu entwickeln.“

Abel ist auch Beauftragter für den öffentlichen Gesundheitsdienst des Berliner Kinderärzteverbandes. In dieser Funktion bedauere er sehr, dass in seinem Bezirk gerade ein „sehr hilfreiches Projekt“ aus Finanzgründen gestrichen worden sei. Bei diesem Programm wurden 50 Kinder wesentlich umfangreicher gefördert als in Einzeltherapien. Sie konnten sich teils alleine, teils in Gruppen austoben, wurden kognitiv und motorisch geschult – zeitweise auch gemeinsam mit den Eltern. Die Krankenkassen hätten 30 Prozent der Kosten getragen, aber selbst der Rest sei dem Bezirk noch zu teuer gewesen.

Weniger Fernsehen und mehr Ganztagsschulen fordert die Chefin der Bildungsgewerkschaft GEW, Rosemarie Seggelke: „Damit wäre schon ein großer Teil des Problems gelöst.“ Auch die Opposition sieht Handlungsbedarf. CDU-Bildungssprecher Sascha Steuer hält eine Vorschulpflicht für sinnvoll. „Sprache lernen Kinder mit drei Jahren am besten, nicht erst mit sechs.“ Außerdem müsse es wieder möglich sein, bei auffälligen Kindern zügig sonderpädagogischen Förderungsbedarf festzustellen.

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