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In den Grundschulen der größte Lehrermangel - nicht nur in Berlin, aber hier besonders.

© Kitty Kleist-Heinrich

Grundschulen in Berlin: Zwischen Brennpunkt- und Privatschule: Wie sollen Kinder lernen?

Derzeit läuft die Frist für Eltern, die ihr Kind für das kommende Schuljahr an einer Grundschule in Berlin anmelden wollen. In Brennpunktbezirken meiden viele bildungsnahen Familien die staatlichen Schulen. Elterninitiativen wollen das ändern.

Kevin hat das Kinn auf die Hände gestützt. Seine Wangen sind gerötet, das Matheheft liegt vor ihm auf dem Tisch. Die Gleichung, an der er gerade knobelt, lautet 600 plus 70 plus fünf. Der Drittklässler rechnet: Sechs Einhunderter, sieben Zehner und eine Fünf. Was macht das bloß? „Neun“, ruft da seine Mitschülerin Irem durch den Raum. Die Zweitklässlerin übt allerdings nicht wie Kevin die Zahlen bis 1000, sondern gerade einmal bis 20. Und während sie dafür pinke Kreise addiert und subtrahiert, müssen die Schulanfänger Ömer, Mariam und Eylül Zahlen nur malen. Zur selben Zeit. Am selben Tisch.

An der Karlsgartenschule findet der Unterricht in den ersten drei Klassen jahrgangsübergreifend statt. Das umstrittene Modell wurde 2005 für alle Berliner Grundschulen zur Pflicht, seit letztem Jahr kann es wieder freiwillig eingesetzt werden. Ein Drittel der Berliner Schulen verzichtet seitdem wieder auf das Konzept – die Karlsgartenschule nicht. An diesem Morgen funktioniert die Stillarbeit in sechs altersgemischten Kleingruppen gut, auch, weil neben den Lehrerinnen Frau Fleischmann und Frau Hahn vier Viertklässler helfen, die eigentlich eine Freistunde haben. Eine Integrationspädagogin kümmert sich zudem um eine Schülerin mit Down-Syndrom. Der Name des Mädchens ist Milleray. Das bedeutet „Sonnenstrahl“. Wie viele ihrer Mitschüler wächst sie zu Hause mit einer nicht-deutschen Muttersprache auf. Laut dem Schulporträt der Karlsgartenschule auf der Internetseite der Senatsbildungsverwaltung betrifft das hier 88 Prozent.

Die Herausforderungen für Berlins staatliche Grundschulen sind groß. Und spätestens dort, wo zu jahrgangsübergreifendem Lernen und der Inklusion geistig behinderter Kinder noch ein großer Anteil an Integrationsarbeit hinzukommt, erscheinen sie vielen Eltern zu hoch. So wurden nach einer Studie des Forschungsbereichs des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration im Schuljahr 2011/12 über 800 Kinder aus Neukölln in anderen Bezirken eingeschult. Mit einer Quote von 6,5 Prozent aller Erstklässler des Viertels ist das einer der höchsten Werte von Bildungsflucht in Berlin. Der Bezirk und gerade der Stadtteil Neukölln laufen stetig Gefahr, dass an seinen Schulen die Angst vor misslingender Integration zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird.

Für Susann Worschech ist das ein Unding. Die dreifache Mutter, deren Tochter Ella Tag für Tag mit Kevin, Milleray und den anderen Kindern in einem Klassenraum sitzt, lebt seit zehn Jahren im Schillerkiez und beobachtet seitdem, wie sich der Problembezirk zu einem hippen Multi-Kulti-Viertel entwickelt. Mit Künstlern und Studenten, jungen Paaren und Kindern. Was Menschen aus bildungsnahen Milieus, auch Besserverdienende, hierher lockt, versteht die Sozialwissenschaftlerin. Gut sogar. Was sie aber nicht versteht, ist, dass die neuen Nachbarn das Flair von Neukölln mit den türkischen Obst- und Gemüseverkäufern an der Straße, den Cafés, Geschäften und Shisha-Bars mögen – aber die Schulen nicht. „Wenn ich mich bewusst für einen Kiez entscheide, dann gehören da auch Kitas, Kinderläden und Schulen dazu“, sagt sie. Ansonsten würden die Kinder, die nur zum Schlafen und Spielen im Kiez sind, doch eine Scheinwelt erleben.

Als Özcan Mutlu 1975 in Kreuzberg eingeschult wurde, landete er in einer ganz anderen Scheinwelt. Er ging in eine Klasse, in der alle Mitschüler türkisch waren und überhaupt kein Deutsch konnten. Bis 1995 gab es in Berlin diese sogenannten Ausländerklassen – während der Anteil von Zuwanderern in den Regelklassen höchstens 30 Prozent betragen durfte. Unter diesen Bedingungen erlebte Mutlu zwei Jahre lang das deutsche Schulsystem – und gelernt, sagt Mutlu, habe er in dieser Zeit nicht viel. Die Lehrer hätten sich darauf beschränkt, den Kindern erst einmal Deutsch beizubringen. Mit geringem Erfolg. „Die Sprache habe ich anders gelernt, beim Fußballspielen oder beim Sesamstraße-Schauen. Im Unterricht war das kaum möglich“, sagt der Grünen-Politiker, der in der kommenden Legislaturperiode im Bundestag sitzen wird und in Berlin seit zwanzig Jahren Bildungspolitik betreibt. Bevor er in die dritte Klasse kam, setzte sich seine Lehrerin dafür ein, dass er in eine andere Schule gehen konnte – in eine Klasse, in der zwar auch viele Kinder aus unterschiedlichen Nationen wie Italien, Griechenland, Jugoslawien und Deutschland saßen, aber „wir waren gezwungen, deutsch zu sprechen, weil wir keine andere gemeinsame Sprache hatten“.

Wie kann man die Schulflucht stoppen?

Die ersten, wie er sagt, „verlorenen Jahre“, hängen ihm jedoch bis heute nach. „Bildung war für mich eine Ochsentour, ich musste mich immer mehr anstrengen als andere“ – auch, weil seine Eltern ihm kaum helfen konnten. „Ich bin ein klassisches Arbeiterkind“, sagt Mutlu. Bei Physik, Englisch oder Deutsch-Hausaufgaben waren sie überfragt. Deswegen hätte er es ohne den Einsatz seiner Lehrerin nicht geschafft. Ein Glück sei das gewesen, die zu haben. „Aber es darf doch nicht vom Glück abhängen, ob ein Kind Bildungschancen hat“, empört er sich. Viel zu wenig habe sich seit 1975 getan, und er hat – jetzt ganz Politiker – so einige Lösungsvorschläge: die starre Einzugsgebietsregelung aufheben, Kita-Gruppen eine gemeinsame Anmeldung an der Schule ermöglichen, mehr Lehrer mit Migrationshintergrund einstellen, und Elternbildung fördern.

Eine andere Idee, um die Schulflucht aus Brennpunktbezirken zu stoppen, haben Susann Worschech und neun weitere Eltern aus Neukölln vor zwei Jahren entwickelt. Als Initiative „Kiezschule für alle“ gehen sie in Kitas und Kinderläden, laden Eltern vor der Einschulung zu Info-Abenden ein, vermitteln für sie Unterrichtsbesuche. Dadurch haben die Mitglieder bisher 35 Mädchen und Jungen für die Karl-Weise-Schule und die Karlsgartenschule im Schillerkiez gewinnen können, die sonst vielleicht nicht dort gelandet wären. Zudem bieten die beiden Grundschulen an, dass Eltern Wünsche beim Klassenlehrer angeben und Freunde in Zweier- oder Dreiergruppen einschulen lassen können. „Aber“, betont Susann Worschech, „die Schule möchte keine ,Deutschenklassen‘!“

Genau das – eine Deutschenklasse errichtet zu haben – unterstellten türkische Eltern im letzten Jahr der Lenau-Schule in Kreuzberg. Bei der Einteilung der Anfängerklassen entstand eine Klasse mit einem 85-prozentigen Anteil an Kindern mit deutschem Hintergrund und eine Klasse ohne ein einziges deutsches Kind. Daraufhin wehrte sich die Schulleitung gegen den Vorwurf der Diskriminierung und erklärte das Problem folgendermaßen: Die Eltern der deutschen Kinder, die in die Klasse mit dem absoluten Migrantenanteil gehen sollten, seien vor der Einschulung kurzfristig abgesprungen. Deswegen das Ungleichgewicht.

Ähnlich wie an der Karlsgartenschule gibt es auch an der Lenau-Schule eine Elterninitiative, die für die Schule im Kiez wirbt. Aydan Yeyin-Kocadag (38) hat ihre siebenjährige Tochter Yade im letzten Jahr dort eingeschult. „Das hat für mich etwas mit Solidarität zu tun“, sagt sie. „Wer im Kiez lebt, unterstützt doch, was dort, und nicht, was woanders ist.“ Die Eltern, die sich für eine Schule in einem anderen Bezirk entscheiden, hätten ihrer Meinung nach aus zwei Gründen Angst. Zum einen würden sie soziale Probleme wie Ausgrenzung und Gewalt befürchten. Zum anderen seien sie skeptisch, ob ihr Kind an einer Schule mit vielen Ausländern genug lernen würde. „Sie glauben, dass sich die Lehrer hauptsächlich um Kinder mit einem Migrationshintergrund kümmern müssen und dadurch schnell an ihre Grenzen kommen“, erzählt sie. Dabei gebe es erstens kein Kind, das überhaupt kein Wort Deutsch sprechen könnte und zweitens spiele neben den Lehrern auch der Einfluss der Eltern eine Rolle. „Wenn ein Kind normal intelligent ist und die Schulbildung zu Hause nicht torpediert wird, darf die Grundschulzeit kein großes Problem sein.“ Doch natürlich haben viele verschiedene Menschen viele verschiedene Probleme: Da sind die „türkischen“ oder „arabischen“ Eltern, die dem System Schule manchmal skeptisch gegenüberstehen, auch weil sie als Gastarbeiterkinder lange stiefmütterlich von ihm behandelt worden sind. Da sind die „deutschen“ Eltern, die die Erinnerung an den eigenen Lernfortschritt in sozial und kulturell homogenen Grundschulklassen mit dem der eigenen Kinder vergleichen und befürchten, dass ihr Kind von den Sprachdefiziten der anderen im Lernfortschritt gebremst wird. Und schließlich sind da die Lehrer, in deren Ausbildung der Umgang mit Multi-Kulti-Klassen noch allzu oft eine untergeordnete Rolle spielt. Für den Gang zur Privatschule – die radikale Alternative zu den öffentlichen Schulen in heterogenen Stadtteilen – gibt es eine Reihe von Gründen. Für eine solche Schule hat sich zum Beispiel Marc van der Kemp entschieden. Er wohnt seit neun Jahren in Neukölln, mag das Viertel, und hat sich deswegen auch die Karlsgartenschule im Schillerkiez angesehen. Im Prinzip habe ihm die Schule mit den engagierten Eltern und Lehrern gefallen, doch am Ende reichte ihr Bemühen nicht aus. Seine Befürchtung war nicht, dass seine Tochter bei einem hohen Anteil an Migrantenkindern zu wenig lernen würde, und auch die verschiedenen Sprachen und Herkünfte störten ihn, den Niederländer, nicht. Es war stattdessen der Ton, der ihm missfiel. „Immer wieder deine Mutter dies, deine Mutter das. Das wollte ich für meine Tochter nicht.“ Und das wollten auch viele Eltern ihrer Kita-Freunde nicht. Rund zehn Prozent aller Eltern in Berlin schicken ihre Kinder mittlerweile auf Privatschulen. Im Schuljahr 2012/13 waren es etwa 10 400 von fast 137 000 Grundschülern. Tendenz steigend. Marc van der Kemps Tochter lernt zum Beispiel an der Deutsch-Skandinavischen Gemeinschaftsschule in Tempelhof. Die Schule existiert seit vergangenem Jahr und bietet entweder Dänisch, Norwegisch oder Schwedisch als Zweitsprache an. Über die Hälfte der 90 Schülerinnen und Schülern haben einen skandinavischen oder zweisprachigen Hintergrund – und während das babylonische Sprachgewirr auf dem Pausenhof anderswo so bedrohlich wirkt, erscheint es dort wie eine kosmopolitische Verheißung. Eine, die offenbar gut ankommt: 45 Prozent der Eltern kommen aus Deutschland. Vor allem bei ihnen sei die Nachfrage enorm. „Ich habe das Gefühl, dass viele eine Alternative zum deutschen Schulsystem suchen“, sagt der Schulleiter Jacob Chammon (32). Dass dies in seinem Fall eine Privatschule ist, sei für ihn nicht zwingend. Im Gegenteil. „Am liebsten wäre es mir, dass die staatlichen Schulen so gut wären, dass wir private Schulen gar nicht brauchen, aber das ist Berlin nun einmal nicht der Fall“, sagt er.

Die Sache mit den Scheinanmeldungen

Es ist aber nicht nur die hier gewollte Vielsprachigkeit, die bei Eltern ankommt: Marc van der Kemp etwa überzeugte an der Schule auch der nicht-autoritäre Umgang mit den Kindern, der Unterricht auf Augenhöhe. „Hier werden Schüler in den ersten Jahren weder mit Noten beurteilt, noch bekommen sie Hausaufgaben auf. Das gefiel mit sofort.“ Das Einzige, das ihn etwas stört, ist der lange Weg zur Schule. Konkret heißt das für seine Tochter am frühen Morgen: Vier Minuten zu Fuß zur nächsten Bushaltestelle, zehn Minuten mit dem Bus zur U-Bahn-Station „Platz der Luftbrücke“, zehn Minuten mit der U6 zum „Westphalenweg“ und von dort noch einmal 350 Meter zu Fuß. Und dann ist da neben dem Faktor Zeit noch das Geld: Für einen der begehrten Plätze müssen die Eltern je nach Einkommen 100 bis 389 Euro pro Monat bezahlen, 57 Euro Essensgeld, und einmalig 100 Euro für Schulmaterialien. Sie müssen sich darüber hinaus mit 40 Elternstunden pro Jahr engagieren, und sollten möglichst einen Kurs in der Fremdsprache ihres Kindes besuchen.

Wer zu derartiger Eigenleistung ebenso wenig bereit oder in der Lage ist wie zum Gang auf eine Schule im gemischten Kiez, dem bleibt, gefühlt, am Ende nur die Flucht. Viele, die in der Gegend rund um die Hasenheide wohnen, versuchen zum Beispiel, einen Platz an der Reinhardswaldschule in Kreuzberg zu bekommen. Die staatliche Grundschule in der Nähe des Südsterns bietet Französisch und Englisch wahlweise als erste Fremdsprache an, dazu Montessoriklassen und Lernwerkstätten. Jedes Jahr hat sie doppelt so viele Anmeldungen wie Plätze – und hier geben laut dem Schulporträt im Internet nur 47 Prozent der Familien an, dass bei ihnen zu Hause nicht Deutsch gesprochen wird. Um dort zum Einzugsgebiet zu gehören, melden sich manche Eltern zum Schein unter der Adresse von Freunden oder Verwandten an. Legal ist das zwar nicht, aber so genau schaut niemand hin. „Das ist manchmal ganz lustig, wenn ich mit meinen Erstklässlern einen Kiezspaziergang mache“, erzählt Miriam Dowe, die Lehrerin an der Reinhardswaldschule ist. Wenn sie dann auf ein Haus zeige, in dem ein Kind laut ihrer Adressliste wohnt, dann kommt es öfter vor, dass dieses Kind ganz erstaunt guckt und sagt: „Nein, da wohnt doch nur die Freundin meiner Mutter.“

Miriam Dowe, 38, lässt keinen Zweifel daran, dass sie die Reinhardswaldschule für eine gute Schule hält. Ihre Tochter Jona schult sie im nächsten Jahr trotzdem an der Karlsgartenschule ein. Sie kennt zwei Familien, deren Kinder dort sehr zufrieden sind – warum sollte das nicht auch für Jona gelten? „Es hängt von so vielem ab, ob ein Kind an einer Schule glücklich wird“, sagt sie.

Und dann erzählt sie noch von einem Elternabend der Kiezschulinitiative von Susann Worschech, bei der sich ein Vater Sorgen wegen der vielen Gebüsche und Verwinkelungen auf dem Pausenhof gemacht habe. Ob diese dunklen Ecken nicht besonders gut geeignet seien, um ein Kind ungestört zu verprügeln? Eine andere Mutter meldete sich, schmunzelte und sagte, dass sie den Schulhof ganz anders wahrgenommen hat. Als wunderbaren Ort zum Verstecken spielen.

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