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Hochbegabte Kinder brauchen im Unterricht besondere Förderung.

© Thilo Rückeis

Hochbegabte Kinder: Schneller lernen ab IQ 130

Hochbegabte Kinder stellen Eltern und Lehrer vor Herausforderungen. Ein berlinweites Netzwerk hilft Familien.

Amin interessiert sich für Technik und Geschichte, besonders fasziniert ist er vom viktorianischen Zeitalter. Aber auch philosophische Fragen treiben ihn um: Gibt es eine Seele? Was passiert mit einem Menschen, wenn er stirbt? Amin* ist sechs Jahre alt und geht in die erste Klasse. Dass ihr Sohn anders ist als andere Kinder, fiel Nadja Abbas* schon früh auf. Er schaut gerne Nachrichten und unterhält sich am liebsten mit Erwachsenen.

Doch Amin kostet seine Eltern auch Nerven – manchmal zu viele. Als ihr Sohn drei Jahre alt war, gingen Nadja Abbas und ihr Mann zu einer Berliner Erziehungsberatungsstelle. „Er brauchte unheimlich viel Aufmerksamkeit und Unterhaltung“, erzählt die Mutter. Mit Gleichaltrigen konnte er damals wenig anfangen, reagierte zum Teil aggressiv, schrie und schubste sie. Nie konnte Abbas ihren Sohn einfach einmal mit Spielzeug auf den Boden setzen und mit sich selbst beschäftigen lassen, wie sie es bei anderen Eltern sah. Regeln hinterfrage Amin auch heute noch grundsätzlich, berichtet die 35 Jahre alte Akademikerin. „Wer sagt das, warum ist das so?“, wolle er ständig wissen. „Wenn es morgens schnell gehen soll, macht das keinen Spaß.“

Der Diplom-Psychologe André Jacob von der Erziehungsberatungsstelle Steglitz-Zehlendorf berät Amins Eltern. Er vermutete bei dem Jungen schon vor drei Jahren eine Hochbegabung. Da Intelligenztests aber erst ab fünf Jahren empfohlen werden, wissen die Eltern den IQ ihres Sohnes erst seit Kurzem. Den genauen Wert möchte Nadja Abbas nicht nennen. Eine Hochbegabung liegt nach Meinung vieler Experten ab einem IQ von 130 vor. Amins Ergebnis liegt weit darüber. „Jetzt können wir nochmal besser verstehen, warum er so anders ist“, sagt Nadja Abbas.

Als hochbegabt gelten nur etwa zwei Prozent der Bevölkerung. Nur ein Bruchteil habe Probleme in der psychosozialen Entwicklung, betont Jacob. „Hochbegabte Kinder und Jugendliche haben mit nicht mehr und nicht weniger Problemen zu kämpfen als andere in ihrem Alter.“

Allerdings werden manche Hochbegabte häufiger erkannt als andere. Bei Jungen etwa vermuten Eltern und Lehrer öfter eine Hochbegabung als bei Mädchen. Das kann Jacob zufolge daran liegen, dass Erwachsene dazu neigen, die besonderen Leistungen von Mädchen eher auf Fleiß zurückzuführen als auf Können. Auch hochbegabte Migrantenkinder würden seltener als solche erkannt, sagt Jacob. Grund seien unter anderem gesellschaftliche und persönliche Erwartungen – und Vorurteile: Das außergewöhnliche Verhalten der Kinder werde häufig nicht mit einer möglichen Hochbegabung in Verbindung gebracht. „Sie fallen außerdem sprachlich nicht so sehr auf.“ Auch Amin, dessen familiäre Wurzeln in Nordafrika liegen, scheint eher technisch begabt zu sein als sprachlich.

Als Erziehungsberater hat Jacob beruflich vor allem mit den Schwierigen unter den Hochbegabten zu tun – einer sehr kleinen Gruppe. „Wenn eine Familie zu uns kommt, dann, weil sie sich Sorgen macht.“ Manchmal sehe er ein halbes Jahr lang keine neuen Eltern mit einem hochbegabten Kind. Das sei ein Problem, sagt der Psychologe: Je weniger Fälle ein Berater betreue, desto geringer sei seine Erfahrung.

Deshalb ist unter der Koordination des Psychologen ein flächendeckendes Familienberatungsnetzwerk für Hochbegabte entstanden. 16 Mitarbeiter aus Erziehungs- und Familienberatungsstellen in öffentlicher und freier Trägerschaft sind dafür in den vergangenen zwei Jahren geschult worden. Vertreten sind alle Bezirke außer Lichtenberg und Tempelhof-Schöneberg. Anders als bei den schulpsychologischen Beratungszentren liegt der Schwerpunkt hier nicht auf Schwierigkeiten in der Schule.

Vielmehr geht es um mögliche Entwicklungsschwierigkeiten eines Kindes und was diese für seine Familie bedeuten. Bekommt das hochbegabte Kind zum Beispiel so viel Aufmerksamkeit, dass sich sein Geschwister zurückgestellt fühlt? Sind die Eltern mit den ständigen Fragen ihrer Tochter oder ihres Sohnes überfordert? Welche Möglichkeiten gibt es, sich zu entlasten? Die in Frankfurt am Main ansässige Karg-Stiftung für Hochbegabte hat das Projekt mit 43 000 Euro unterstützt. „50 Prozent des Bildungserfolges haben mit Familie und Elternhaus zu tun“, sagt Vorstandsmitglied Ingmar Ahl. Daher sei es sehr wichtig, die Kompetenz der Eltern zu stärken.

Nadja Abbas’ Alltag ist durch die Beratung einfacher geworden. Jacob habe ihr vorgeschlagen, Amin zwar geistiges Futter zu geben, aber auch mal Nein zu sagen, wenn gerade keine Zeit sei, seine bohrenden Fragen zu beantworten. „Er muss auch wissen, dass es Grenzen gibt“, sagt sie. Momentan überlegt die Mutter, wie es für Amin schulisch weitergehen soll. Im Unterricht wirke er oft besserwisserisch oder langweile sich. Die Lehrer müssten ihm dann zusätzliche Aufgaben zum Knobeln geben. Wahrscheinlich wird er von der ersten in die dritte Klasse springen. Abbas möchte ihren Sohn auch ermutigen, möglichst früh englisch und französisch zu lernen. Der Wissensdurst von Hochbegabten sollte auf keinen Fall ausgebremst werden, heißt es bei der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind. Wenn ihre Fragen übergangen oder als nervig abgetan würden, könne das sogar Krankheiten auslösen.

Amin bringe sie immer wieder zum Schmunzeln, sagt Nadja Abbas. Neulich tat ihm sein Kopf weh – er nahm an, dass Bakterien Schuld daran seien. Da er kurz zuvor gehört hatte, dass Bakterien durch Hitze absterben, hielt er seinen Kopf unter heißes Wasser. „Da hatte ich viel zu erklären“, sagt sie und lacht.

Eine Übersicht über Schwerpunktschulen und besondere Angebote in Berlin finden Sie hier.

Christine Cornelius

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