zum Hauptinhalt

Interview: "Ich kann nicht alle Kinder retten"

Wenn sie mit Eltern redet, braucht Rita Schlegel manchmal einen Dolmetscher – und das ist noch ein kleines Problem. Den Optimismus hat sich die Rektorin einer Neuköllner Grundschule trotzdem bewahrt.

Frau Schlegel, jetzt haben auch Sie aufgegeben..
Nein, natürlich nicht, warum sollte ich?

Zu Beginn des laufenden Schuljahres haben Sie die Informationsmappe für Eltern von Erstklässern zum ersten Mal auch ins Türkische und Arabische übersetzen lassen. Dagegen hatten Sie sich bisher gesträubt.

Das hat nichts mit Aufgeben zu tun. Da habe ich einfach mal meine Meinung geändert, das soll vorkommen. Es nutzt doch nichts, wenn ich etwas in einer Sprache erkläre, die schlecht oder kaum verstanden wird. Ich kann ja nicht zu den Eltern gehen und sagen: Ihr müsst sofort Deutsch lernen – und wenn ihr das aus irgendwelchen Gründen nicht könnt oder nicht wollt, dann spreche ich nicht mit euch. Ich will schließlich das Positive für jedes Kind.

20 Jahre lang haben Sie gehofft, dass die Eltern irgendwann Deutsch lernen. Also ist es Resignation, wenn Sie nun übersetzen lassen, dass die Mädchen beim Sportunterricht keine Nadeln und Plastikscheiben in ihren Kopftüchern tragen dürfen und Schwimmunterricht verpflichtend für alle ist.

Warum denn? Wenn ich resigniert hätte, würde ich den Eltern diese Informationen gar nicht zukommen lassen. Ich wünsche mir, dass die Eltern sich erst mal willkommen und angenommen fühlen. Das macht vieles einfacher. Wenn ich ihnen auf Türkisch schreibe, dass sie bitte zu einer Einführungsveranstaltung kommen möchten, und sie erscheinen auch, habe ich es richtig gemacht. Sind die Eltern dann hier, spreche ich natürlich Deutsch. Die Verständigung klappt mit Händen und Füßen und manchmal mithilfe eines Dolmetschers.

Es gibt in Berlin viele Mütter, die durch Heirat hier gelandet sind und nur vier oder fünf Jahre in der Türkei die Schule besucht haben. Wie können diese Mütter ihre Kinder eigentlich unterstützen?

Da sprechen Sie ein ganz, ganz großes Problem an. Diese Frauen können in ihrer Muttersprache kaum lesen und schreiben. Sicher, sie lieben ihre Kleinen und wollen nur das Beste – unbestritten. Nehmen wir mal an, das Kind kommt mit Lernproblemen in die Schule, in der 2. Klasse soll es ein weiteres Jahr in der Schulanfangsphase verweilen, weswegen die Mutter zum Gespräch einbestellt wird. Da beißen wir auf Granit, weil das Kind ja aus ihrer Perspektive kurz vor dem Abitur steht: Es kann ein bisschen Deutsch, was sie nicht kann. Es kann Straßenschilder lesen, was sie nicht kann, und so weiter. Erinnern Sie sich noch an den Schulreifetest?

Bei dem sich Kinder mit der rechten Hand über den Kopf ans Ohr fassen mussten?

Ganz genau. Von den 100 Schulanfängern, die ich jedes Jahr habe, sind 25 nicht schulreif. Die können nicht auf einem Bein hüpfen. Oder sie malen nur Kopffüßler – das heißt, sie stellen einen Menschen als Kreis mit Ärmchen und Beinchen dar, als Käfer. Das ist die Entwicklungsstufe eines Drei- oder Vierjährigen. Heute müssen auch diese Kinder eingeschult werden. Sie brauchen dann halt drei Jahre für den Stoff der ersten zwei Schuljahre. Ein schulreifes Kind sollte einen richtigen Körper malen können, je mehr Teile, desto besser.

Seit einigen Jahren gibt es in Berlin eine verpflichtende einjährige Deutschförderung in der Kita für alle Kinder, die vor der Einschulung Sprachprobleme haben. Ändert das gar nichts?

Manche gehen trotzdem nicht hin, weil es keine Plätze mehr gibt oder die Eltern das einfach nicht wichtig finden. Selbst die Schulpflicht wird nicht so ernst genommen. Wir haben jedes Schuljahr „polizeiliche Zuführungen“, mit anderen Worten: Kinder werden von der Polizei zur Schule gebracht. Bereits bei der Anmeldung zur Schule müssen manchmal Eltern von der Polizei hergebracht werden!

Schulsenator Jürgen Zöllner erwägt, die Kitapflicht auf zwei Jahre zu verlängern. Eine gute Idee?

Ja, die Kinder sollen so schnell wie möglich in die Kita – aber nur, wenn die Kita auch genügend Plätze hat und adäquat ausgestattet ist. Es ist ja auch eine Frage des Personals: Uns fehlen Erzieher, und die, die wir haben, werden mit nicht einmal 2000 Euro brutto im Monat auch viel zu schlecht bezahlt.

Der Spracherwerb eines Kindes ist mit drei Jahren schon sehr weit entwickelt. Dann müssten Kinder noch früher in die Kita?

Eigentlich schon, von mir aus mit ein oder zwei Jahren. Das könnte so aussehen, dass die Mütter zusammen mit den Kindern Sprachkurse besuchen. Und das geht weit über den Spracherwerb hinaus: Man könnte Kurse geben und erklären, wie man ein ordentliches Frühstück macht, oder erklären, warum Pausenbrote wichtig sind und wie man mit der Silvesterknallerei am besten umgeht.

In der Info-Mappe, über die wir anfangs sprachen, steht zum Beispiel, dass ein Schulkind einen gut beleuchteten Platz braucht, wo es ungestört seine Hausaufgaben machen kann. Das sollte doch eigentlich selbstverständlich sein und ...

... ist es nicht. Ebenso wenig wie, dass der Fernseher dabei aus sein sollte. In Neukölln leben oft große Familien auf engstem Raum zusammen, da ist immer Krach und Leben – damit ist es schwer für ein Kind, sich auf Aufgaben zu konzentrieren. Und wenn abends um neun noch Besuch kommt, bleibt das Kind halt auf und ist morgens todmüde.

Viele Kinder an Ihrer Schule sprechen an Ihrem ersten Schultag nur rudimentär Deutsch. Sie unterrichten Schülerinnen und Schüler aus 20 Ländern. Kann so überhaupt Unterricht stattfinden?

Wir arbeiten viel mit Bildmaterial. Die Lehrerinnen und Lehrer machen ganz klar eine Sprachschulung im Unterricht: mit Vorsprechen und Nachsprechen, damit die Kinder wirklich begreifen, was gemeint ist. Mein Lieblingsbeispiel stammt aus dem Mathematikunterricht. Es galt, eine Sachaufgabe zu lösen, der Gegenstand war eine Gondel. Keines der Kinder wusste, was das ist.

Wie können Kinder dieses Niveau von Sprache erlernen, wenn dies in den Familien keine Rolle spielt?

Durch reine Sprachanwendung, die besonders ein Ganztagsbetrieb bietet, durch Texte, die sie in der Schule lesen. Durch das Einordnen in neue, eigenständig erarbeitete Zusammenhänge. Wissen Sie, im letzten Jahrgang haben 50 Prozent unserer Schüler eine Realschul- oder Gymnasialempfehlung gehabt. Ganz so schrecklich kann es hier nicht sein!

Also hat die Hälfte Ihrer Abgänger nur eine Hauptschulempfehlung bekommen.

Das ist relativ wenig. Ich tröste meine Kollegen immer damit, dass ich ihnen sage: 1957 haben hier noch zwei Drittel eine Hauptschulempfehlung bekommen. Und da gab es bei Weitem nicht so viele Familien mit nichtdeutschen Herkunftssprachen wie heute. Diese Ecke von Neukölln war früher ein Arbeiterbezirk, und in einem solchen Milieu spielte Schule einfach keine so große Rolle.

In der großen Pause haben wir auf dem Schulhof nur zwei, drei Kinder ohne offensichtlichen Migrationshintergrund spielen sehen. Wie geht’s denen in Zeiten der sogenannten „Deutschenfeindlichkeit“?

Wir hatten einen Fall. In der 5. Klasse wurde ein Junge immer beschimpft, weil er mit Deutschen gespielt hat. Dann wurde er erpresst, so nach dem Motto: Wenn du weiter mit den Deutschen spielst, spielen wir nicht mehr mit dir. Da hat das Kollegium die Schulstation mit den Sozialarbeitern eingeschaltet. Auch die Polizei kommt in die Klassen.

Wegen so etwas?

Nein, das ist eine Präventionsmaßnahme der Polizei, die sehr gut funktioniert. Die vermitteln den Kindern nur: „Seht mal, wenn euch Unrecht geschieht, könnt ihr euch immer an uns wenden. Wir sind dazu da, euch zu helfen.“ Wir haben beobachtet, dass sich die Kinder sehr schnell öffnen, und dann kommen oft schlimme Dinge ans Tageslicht – zum Beispiel ein Fall von „Happy Slapping“ ...

... wo Kinder einander verprügeln, es mit dem Handy filmen und die Bilder dann ins Netz stellen.

In diesem Fall handelte es sich um einen Jungen, der – außerhalb der Schule, am Nachmittag – von einem Mitschüler aufgefordert wurde, sich vor dem laufenden Handy zu entblößen. Da haben wir die „Berliner Jungs“ eingeschaltet, das ist eine Anti-Pädophilie-Institution. Gerade hier im Kiez haben Pädophile leichtes Spiel – wenn das Kind zu Hause keine Spielsachen hat und eine Kommunikation mit den Eltern nicht stattfindet, fassen sie oft viel zu schnell Vertrauen. Doch die Kinder laufen nicht nur Gefahr, Opfer zu werden, sondern auch Täter: Große Brüder oder andere Clan-Mitglieder sind leider meist schlechte Vorbilder. Wenn Kriminalität geduldet wird, um mal schnell an ein dickes Handy zu kommen, wird es schwierig. Wir versuchen, andere Vorbilder zu schaffen, auch mithilfe unserer Sportbetonung.

Sie haben einmal erzählt, dass muslimische Väter Ihnen anbieten, das Lehrerzimmer neu zu streichen, wenn Sie die Tochter als Gegenleistung vom Schwimmunterricht befreien.

Ja, jedes Jahr haben wir beim Schwimmen ein, zwei Fälle, wo es schwierig wird. Wir machen den Eltern in Gesprächen klar, dass Schwimmen auch Leben retten kann. Damit haben wir meist Erfolg, in extremen Fällen geht es bis zum Familiengericht.

Ihre Schule hat mehr goldene Trophäen im Regal als so mancher Sportverein.

Im Sport gibt es klare Regeln. Nur wenn man die befolgt und sich anstrengt, kann man auch etwas leisten. Wenn der Schiedsrichter pfeift, dann pfeift er. Sport ist ein herrliches Werkzeug, um Werte zu vermitteln. Wichtig ist, dass die Kinder das Gefühl bekommen: Auch wenn man aus Neukölln kommt, kann aus einem was werden.

Sie sind selbst gebürtige Neuköllnerin.

Ich habe mittlerweile viele junge Kollegen, die im Kiez wohnen. Da sieht man sich auch mal auf der Straße, diese Nähe, diese Vernetzung ins Umfeld, halte ich für sehr wichtig.

Sie waren Schülerin an der heutigen Franz-Schubert-Grundschule in der Weserstraße, wo Sie später Ihr Referendariat gemacht haben. Was hat Sie so beeindruckt, dass Sie selbst Lehrerin werden wollten?

Wie meine Mutter erzählte, stand mein Berufswunsch schon nach wenigen Schultagen fest. Ich hatte wohl einfach Spaß an der ganzen Sache, Spaß am Lernen. Dazu kam dann, dass ich zu Kindern immer einen guten Draht hatte. Selbst in jungen Jahren hingen die mir am Schürzenzipfel.

Wie viele nichtdeutsche Schüler waren 1976 in Ihrem Abijahrgang am Gymnasium in der Sonnenallee?

Ich kann mich an niemanden erinnern. Vielleicht einer, dessen Eltern kamen aus Italien, gilt das? Heute sind am Ernst-Abbe 90 Prozent NdHs ...

... Entschuldigung, was bitte heißt das?

Schüler nichtdeutscher Herkunft, auf dem Papier Deutsche.

Sie hätten längst an eine Charlottenburger oder Zehlendorfer Schule wechseln können.

Ich, woanders hin? Nein, ich wollte in Neukölln bleiben. Hier kenne ich mich aus, hier gehöre ich hin.

Machen Sie eigentlich wie andere Schulen am Ramadan Ihre Kantine dicht?

Nein, nie. Trotzdem ist der Fastenmonat ein Problem. Wenn die Kleinen umfallen, lasse ich sie gegebenenfalls mit der Feuerwehr abholen und ins Krankenhaus bringen. Dem Kind ist schlecht, es ist kreidebleich und dehydriert – was soll ich sonst tun? Die Eltern lernen hoffentlich etwas, wenn sie ihr Kind in der Klinik abholen.

Was halten Sie von dieser Idee: Wenn das Kind gar nicht in der Schule auftaucht oder häufig fehlt – den Eltern das Kindergeld zu streichen?

Das wäre der einfachste Weg. Man muss aber genau hinsehen. Wenn das Kind nicht kommt, weil es keine Schuhe hat, schalten wir das Jugendamt ein.

Wie viel Prozent Ihrer Familien sind lernmittelbefreit, also: arbeitslos?

90 Prozent bekommen ihre Bücher gestellt, sie beziehen Transferleistungen vom Staat. Dort ist das Schulkind oft das einzige Familienmitglied, das überhaupt morgens früh aus dem Bett muss, weil es einen Termin hat. Die erscheinen manchmal mit ihrem Schlafanzug unter der Jacke. „Ich bin ganz schnell gerannt, ich wollte ja pünktlich sein.“

Die haben dann noch nicht gefrühstückt?

Genau. Deshalb bieten wir ein Frühstück an, mithilfe von Brotzeit e. V. Wir beobachten, dass viele Kinder sich selbst überlassen sind.

Wenn man über Ihren Schulhof läuft, stellt man fest, wie höflich die Kinder Sie begrüßen. Ihnen wird sogar die Tür aufgehalten. Wie machen Sie das?

Höflichkeit und Respekt sind wichtige Werte. Wenn ich jemanden treffe, sage ich „Guten Morgen“ – und fordere das auch ein. Wenn jemand in die Klasse stürmt, ohne anzuklopfen, schicke ich ihn noch mal raus. Und wenn der das fünfmal übt, bis er es kapiert hat. Das Gleiche gilt, wenn jemand „bitte“ und „danke“ vergisst. Kinder merken, ob die, mit denen sie zu tun haben, sie mögen. Wenn man als Lehrer mit einem Lächeln in die Klasse geht, ist schon viel gewonnen. Respekt bekommt man nicht geschenkt. Respekt ist eine Art zu leben.

Es kann Lehrern in manchen Kiezen passieren, von ihren Schülern als „Hunde“, „Fickfehler“ oder „deutsche Schlampen“ bezeichnet zu werden.

Verbreitet sind vor allem „Ich ficke deine Mutter“ und „Ich ficke deine Schwester“, manchmal „Schweinefleischfresser“ – aber eher untereinander und nicht so sehr dem Personal gegenüber. Jeder Einzelne, der so etwas sagt, landet hier bei mir vor dem Schreibtisch, um zu erklären, wie er das meint. Dann benachrichtigen wir die Eltern.

Den Eltern ist das nicht egal?

Nein, im Gegenteil. Die sind ganz erstaunt, zu welchen Ausdrücken ihre Kinder in der Lage sind.

Rund die Hälfte Ihrer Absolventen wird zehn Jahre später jemanden aus der Türkei heiraten, und die Kinder kommen dann wieder in Ihre Klasse. Wie leben Sie mit dem Gefühl: alles vergeblich?

Also, das Gefühl habe ich nicht. Wir sind mit dem Herzen dabei und versuchen, den Kindern möglichst gute Startmöglichkeiten zu geben. Schön ist, wenn man dafür irgendwann Rückmeldung von den Schülern bekommt, wenn die ihr Abitur bestanden haben. Manch einer geht dann zu seinem alten Klassenlehrer und zeigt voller Stolz seine Note.

Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?

Der gehört zu mir. Schon als junge Lehrerin habe ich gelernt: Glücklich in seinem Job wird man nur, wenn man mit dem Herzen dabei ist und akzeptiert, dass man nicht alle Kinder retten kann. Wenn wir in jedem Jahrgang fünf auf den richtigen Weg bringen, ist schon einiges geschafft.

Und was sagen Sie Eltern, die mit der Schulreife ihres Kindes aus Neukölln wegziehen wollen?

Sie sollen hier bleiben, unser Leistungsniveau ist gut. Wir hatten schon richtig gute deutsche Schüler, die Klassen hätten überspringen können – aber dann doch geblieben sind, weil sie sich in der Klassengemeinschaft wohlgefühlt haben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false