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Interview mit ehemaligem Lehrer: „Kreuzberger Schüler sind ehrlicher“

„Rock ’n’ Roll und Ramadan“: Mehr als 30 Jahre unterrichtete Albrecht Johann im Brennpunktkiez. Nun hat er ein Buch geschrieben.

Herr Johann, über dreißig Jahre haben Sie an einer Kreuzberger Brennpunktschule unterrichtet. Seit vier Jahren sind Sie pensioniert. Vermissen Sie Ihre Schule?

Die Schule war meine Heimat, das fehlt mir schon. Ich wollte von Anfang an da hin, wo der Trubel ist. Als Referendar war ich an einem humanistischen Gymnasium. Dort haben die Schüler alles mitgemacht, was man ihnen gesagt hat. Aber ich wusste nie, wie sie es wirklich fanden. Meine Kreuzberger Schüler waren ganz direkt und sagten: „Das ist langweilig, können wir nicht mal was anderes machen?“ Mir war diese Ehrlichkeit lieber.

Über Ihren Alltag als Lehrer haben Sie ein Buch geschrieben. Jetzt wollen Sie den Namen der Schule aber lieber nicht mehr nennen. Warum?

Ach, da gab es ein wenig Ärger. Ein paar Leute fühlten sich auf den Schlips getreten oder fanden die Schule in ein schlechtes Licht gerückt. Aber eigentlich geht es ja nicht um die konkrete Schule. Das hätte sich genauso gut an einer Schule in Wedding abspielen können.

In den 70ern wurden Sie als Junglehrer an der Schule mit der Realität konfrontiert und wären fast untergegangen. Sie schreiben: „Von antiautoritärer Erziehung haben wir geträumt, und jetzt haben wir Gewaltfantasien gegenüber unseren Schülern.“

Die ersten Jahre waren grausam. Die Schüler machten, was sie wollten. Ich war zu weich und zu unsicher. Aber je klarer ich in meiner Identität als Lehrer wurde, desto klarer wurde es auch für meine Schüler. Wenn ich mit dem Gefühl in eine Klasse gehe: „Ich habe etwas Wichtiges zu vermitteln“, dann trete ich gleich ganz anders, viel sicherer, auf. Die Schüler spüren jede Schwäche.

Mussten Sie strenger werden?

Ich bin ein sehr wohlwollender und offener Lehrer geblieben. Ich wurde aber strenger, habe schneller eingegriffen und mich stärker abgegrenzt. Ich habe den Schülern auch Freiraum gelassen. Sie durften selbst Stunden gestalten und mir ein Zeugnis schreiben. Und ich konnte oft in den Unterricht einbringen, was mich selbst begeisterte. Aktuelle politische Themen – oder Rock 'n' Roll tanzen.

Das kommt ja auch im Titel vor: „Rock 'n' Roll und Ramadan“.

Ja, ich habe den Tanz irgendwann für mich entdeckt und dann mit den Schülern ausprobiert. Das kam sehr gut an, über kulturelle Grenzen hinweg. Auch darauf wollte ich mit dem Titel hinaus: Als Lehrer war ich ein Vermittler zwischen den Kulturen.

An die Schule kamen im Lauf der Zeit immer mehr muslimische Schüler.

Inzwischen haben fast alle Schüler dort einen Migrationshintergrund. Diese Entwicklung stellte an uns Lehrer neue Anforderungen. Ich habe angefangen, die Themen Islam und islamische Geschichte im Unterricht zu behandeln. Das wird zu wenig im Lehrplan berücksichtigt. Andererseits bringen auch manchmal die Schüler aus den Moscheen ein verzerrtes Bild von der angeblichen Überlegenheit der muslimischen Kultur mit. Ich will ihnen eine kritische Sicht sowohl auf die westliche als auch auf die muslimische Geschichte vermitteln.

Eine Unterrichtsstunde zum Nahostkonflikt eskaliert

Im Unterricht ging es manchmal hart zur Sache. Sie beschreiben zum Beispiel, wie eine Stunde zum Nahostkonflikt eskaliert.

In der Klasse gab es einige Schüler aus palästinensischen Familien. Sie gaben Israel und „den Juden“ einseitig die Schuld. Da muss man als Lehrer gegenhalten. Vielleicht ist man einer der wenigen, von denen sie mal eine andere Meinung hören. Die Schule ist ein ganz wichtiger Ort, um andere Sichtweisen zu vermitteln. Viele sind vor allem den Einflüssen aus ihren Familien ausgesetzt.

Wie haben Sie die Integration der muslimischen Einwanderer in Kreuzberg erlebt?

Ich finde eigentlich, es läuft ganz gut. Es gibt Probleme, aber sie sind lösbar. Die Schüler entwickeln sich, sie sind jeden Tag anders. Eine Schülerin von mir, die gerade erst mit ihren Eltern aus Anatolien gekommen war, sagte in der siebten Klasse noch, dass sie bald ein Kopftuch tragen werde. Das tat sie dann aber nie. Nach dem Abi ging sie mit ihren Eltern in die Türkei zurück. Aber schon nach ein paar Wochen war sie wieder hier. Sie gehöre einfach in die Großstadt, habe sie gemerkt. Sie studierte dann Jura in London und lebt jetzt als moderne junge Frau in Berlin. Aber es gibt auch gegenteilige Entwicklungen. Wenn etwas passierte wie Terroranschläge oder eine Debatte wie um Sarrazin, dann beobachtete ich oft einen Rückzug.

Sie beschreiben auch die turbulente Geschichte Kreuzbergs, von der Hausbesetzerszene bis zur Gentrifizierung, und die wechselvolle Schulgeschichte. Was war die schönste Zeit?

Das waren für mich die 90er Jahre. Obwohl unsere Schule damals wegen Asbestfunden auf andere Gebäude verteilt war. Aber wir hatten uns als Lehrer-Team gefunden, waren mit unseren Methoden sicher, und wir hatten leistungsstarke Schüler. Die Schule war ja eine Gesamtschule – und das Bürgertum mochte seit den 70ern eigentlich diese Idee des gemeinschaftlichen Lernens. Dann kippte das aber allmählich.

Was ist damals passiert?

Die Schülerschaft änderte sich. Die bürgerlichen, deutschen Eltern begannen, ihre Kinder auf Waldorfschulen und Gymnasien zu schicken. Bald kamen fast nur noch türkische und arabische Schüler und dann verselbständigte sich diese Entwicklung. Dazu kamen die vielen Reformen nach dem Pisa-Schock.

Mit der Schulpolitik gehen Sie hart ins Gericht.

Es wurden ständig Reformen durchgesetzt, aber es durfte nichts kosten. Wir Lehrer mussten statt 21 Stunden plötzlich 26 Stunden unterrichten. Ständig gab es neue Vorgaben, Konferenzen, Dokumentationen. Das kostete viel Kraft und Zeit. Man war ständig gehetzt. Und das Kollegium war überaltert und ausgezehrt, es gab kaum junge Kollegen. Da fehlte die Aufbruchstimmung.

Gab es Reformen, die Sie sinnvoll finden?

Ich finde den Mittleren Schulabschluss gut. Das hat dazu geführt, dass sich die Schüler in der zehnten Klasse noch mal reinhängen, weil sie eine Prüfung machen müssen. Auch die Präsentationsprüfungen halte ich für sinnvoll. Die Schüler können sich mit Themen beschäftigen, die sie selbst gewählt haben, und es ist eine gute Vorbereitung aufs Studium.

Was würde einer Schule wie Ihrer helfen?

Eine verlässliche Ausstattung, und zwar nicht über Sonderprogramme. Ich sehe, dass die Schule jetzt auf einem guten Weg ist. Den ehemaligen Gesamtschulen könnte es helfen, dass Schüler dort ein Jahr länger Zeit bis zum Abitur haben. Das macht sie auch für bildungsbürgerliche Familien attraktiv und kann dann wieder zu einer günstigeren Schülermischung führen.

Trotz der schwierigen Bedingungen haben Sie bis zur Pensionierung durchgehalten, während viele Ihrer Kollegen erkrankten oder früher aufhörten. Wie haben Sie das geschafft?

In den letzten zwanzig Jahren habe ich die Stundenzahl auf zwei Drittel reduziert. Das heißt, ich habe auf Geld verzichtet, um meine Arbeit richtig machen zu können. Das kann sich nicht jeder leisten. Aber ich habe als Lehrer auch viel bekommen, zu meinen Stärken gefunden und Anerkennung erfahren. Ich konnte mich mit dem beschäftigen, was mich interessierte. Es ist ein gutes Gefühl, wenn man merkt, dass die Schüler ins Nachdenken kommen und etwas aus der Stunde mitnehmen. Und ich finde, mehr Freiheit hat man in wenigen Berufen.

Das Gespräch führte Sylvia Vogt.

Das Buch „Rock ’n Roll und Ramadan“ ist im Klett-Cotta-Verlag erschienen. Am 30. März liest Albrecht Johann in der Urania (An der Urania 17,, Schöneberg). Eintritt 8 Euro, ermäßigt 6,50 Euro.

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