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Das Titelbild des Kinderbuchs "Susi. Die Enkelin von Haus Nummer 4 und die Zeit der versteckten Judensterne".

© promo

Kinderbuch: Susi, die Enkelin von Haus Nummer 4 und die Zeit der versteckten Judensterne

Die kleine Susi und ihre Eltern überlebten die Nazi-Zeit, ihre Großmutter wurde in Treblinka ermordet. Die Lehrerin Birgitta Behr erzählt die Geschichte einer jüdischen Familie als Kinderbuch. Hier eine Leseprobe.

Am Nikolsburger Platz in Wilmersdorf liegt ein Stolperstein, einer von mehr als 7000 in Berlin. „Hier wohnte Gertrud Cohn. Geb. Ohnstein. Jg. 1876“, steht auf der quadratischen, in den Boden eingelassenen Erinnerungsplakette. „Deportiert 2.9.1942 Theresienstadt. Ermordet 29.9.1942 Treblinka.“ Birgitta Behr, Lehrerin an der Cecilien-Grundschule am Nikolsburger Platz, hat die Geschichte hinter dem Stolperstein recherchiert und ein Kinderbuch über Gertrud Cohns Familie herausgebracht. Erinnerung und das Lernen aus der Vergangenheit für unsere Zeit sind wichtige Themen an der Cecilien-Schule, die Patenschaften für elf Stolpersteine übernommen hat.

Gertrud Cohn lebte im Haus Nummer 4 am Nikolsburger Platz, ihr Sohn Ludwig mit seiner Frau Steffy und der kleinen, 1936 geborenen Tochter Susi gleich um die Ecke in der Holsteinischen Straße 28. Die Enkelin und ihre Eltern überlebten unter dem angenommenen Namen Collm die Nazi-Zeit in Berlin und an der Ostsee, weil ihnen gutwillige, mutige Menschen halfen. Das Haus Nummer 4 wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört. Hier eine Leseprobe aus „Susi. Die Enkelin von Haus Nummer 4 und die Zeit der versteckten Judensterne“.

Sie entfernten ihre gelben Sterne, packten ihre Sachen und gingen in die Ungewissheit.

Am 12. Oktober 1942 schloss Susis Vater zum letzten Mal die Tür ihrer Wohnung.

Ein Zuhause gab es von nun an nicht mehr. Sie legten ihr Leben in die Hände anderer und zogen von Haus zu Haus und von Tür zu Tür. Unterkunft und Lebensmittel zu finden, wurde zum täglichen Überlebenskampf.

Dabei hatte Susi nicht nur ihr Zuhause verloren, sondern auch das Zusammensein mit ihren Eltern. Alle drei mussten sich trennen, denn eine ganze Familie unterzubringen, war schwierig und hätte ein hohes Risiko bedeutet, entdeckt zu werden.

So kam Susi immer wieder allein zu fremden Leuten. Das Einzige, was sie mitnehmen durfte, waren Worte: „Susi. Es wird vorübergehen. Es ist nur für eine Weile.“ Aber es war nicht für eine Weile. Es war für mehr als fünfzehn verdammt lange Monate. Dazwischen Umarmungen, als ob sie für immer reichen müssten, und in ihnen lag die Angst, es könnte wirklich so sein.

Im Kinderbuch "Susi. Die Enkelin von Haus Nummer 4 und die Zeit der versteckten Judensterne" von Birgitta Behr wechseln sich Erzählpassagen mit Seiten im Comicformat ab. Das Buch wird für Kinder ab zehn Jahren empfohlen.
Im Kinderbuch "Susi. Die Enkelin von Haus Nummer 4 und die Zeit der versteckten Judensterne" von Birgitta Behr wechseln sich Erzählpassagen mit Seiten im Comicformat ab. Das Buch wird für Kinder ab zehn Jahren empfohlen.

© Illustration: Birgitta Behr

Kurz vor Weihnachten kam Susi zu dem Ehepaar von Frankenberg. Dort saß sie in der Küche voller Fremdheit und litt unter dem Schuldgefühl, das die Nazis einem ganzen Volk eingeredet hatten. War sie vielleicht wirklich schlecht, wie Ungeziefer, eine zu verachtende menschliche Rasse, die man am Boden zertreten und wie Abfall entsorgen sollte?

Susi begann zu weinen. Ihre Worte vermischten sich mit den Tränen in ihren Händen.

„Es tut mir so leid, dass ich Sie in Gefahr bringe!“

„Nein, Susi, es muss anderen leidtun, dass ein kleines Mädchen wie du diese Tränen weinen muss.“

Die Frankenbergs waren sehr nette Leute, die sich liebevoll um Susi kümmerten. Die Frau zauberte aus dem wenigen, was sie hatten, ausreichende Mahlzeiten und Herr von Frankenberg erzählte gern über seine Erlebnisse als Anwalt. Dann verwandelte er für Susi die Worte in Abenteuer und Märchen und füllte sie mit geheimnisvoller Magie.

Susi nannte ihn zärtlich ihren „Waldriesen“ und konnte stundenlang seinen Geschichten lauschen. Dort fühlte sie ihr Zuhause und es war wie damals bei ihrer Großmutter. Sie erinnerte sich an ihre Nähe, ihren Duft und ihre Worte. So geschah es auch am Weihnachtsabend. Als Susi mit dem Licht einer Kerze spielte, hörte sie leise die Stimme ihrer Oma sagen: „Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht!“ Und sie erinnerte sich an den letzten Satz all ihrer Geschichten:

„Am Ende wird alles gut ...“

Aber was war schon gut?

Der Tod ihrer Oma?

Dass sie Juden waren?

Dass sie sich verstecken mussten?

Der Krieg?

Diese Welt?

War das alles gut?

Es verging ein Weihnachten ohne Geschenke, und doch öffnete Susi eine kleine Schachtel, deren Bedeutung größer war als jedes Geschenk dieser Welt! Es war ihr Zauberer, der sie daran erinnerte, die Hoffnung niemals aufzugeben und weiter an die Wunder des Lebens zu glauben.

„... glaube immer fest daran, dass alles so sein kann, wie du es dir wünschst!“

Der Stolperstein für Susis Großmutter Gertrud Cohn liegt an der Stelle am Nikolsburger Platz, an der früher das Haus Nummer 4 stand.
Der Stolperstein für Susis Großmutter Gertrud Cohn liegt an der Stelle am Nikolsburger Platz, an der früher das Haus Nummer 4 stand.

© Stolpersteine Berlin

Susi musste weiter. Man konnte nicht bleiben in dieser Zeit. Sie klopften an Türen, baten um Einlass, und manchmal durften sie eintreten, für einen Tag, eine Woche, vielleicht sogar mehr.

Irgendwann hatte Ludwig Arbeit gefunden und unterrichtete fünf Stunden täglich bei Freunden und Bekannten. Es kehrte ein klein wenig Normalität zurück: arbeiten, Geld verdienen, etwas wert sein. Doch draußen auf der Straße musste er achtgeben. Es war gefährlich, erkannt zu werden.

Eines Tages, als Ludwig auf dem Weg zum Unterricht war, tauchte aus dem Nichts ein Fremder auf. Er flüsterte ein „Guten Tag!“ und „Sind Sie Herr Collm?“, bevor er in den Häusern der Stadt verschwand, so unsichtbar, wie er gekommen war. Das Einzige, was er hinterließ, war das Gefühl von Panik und ein kleines Stück zerknittertes Papier.

Der Mann hatte Susis Vater vor den Nazis gewarnt. Auch wenn es nur eine Sekunde in Gefahr war, die dieser Mann riskiert hatte, rettete er damit das Leben einer ganzen Familie.

Es war eine Frau aus der Nachbarschaft, die Ludwig verraten hatte. Am liebsten wäre er sofort zu ihr gegangen und hätte ihr seine Meinung gesagt, doch erst Jahre später, nach Kriegsende, begegnete er ihr durch Zufall auf der Straße.

Es war nur ein Bruchteil an Zeit, ein Geräusch und dann Stille. Seine Ohrfeige brannte in ihrem Gesicht, wortlos, und er hoffte, dass diese Frau nun endlich verstand, dass es nicht um Pflichterfüllung, sondern um Menschenleben ging.

Birgitta Behr, Autorin und Illustratorin des Kinderbuchs "Susi. Die Enkelin von Haus Nummer 4 und die Zeit der versteckten Judensterne".
Birgitta Behr, Autorin und Illustratorin des Kinderbuchs "Susi. Die Enkelin von Haus Nummer 4 und die Zeit der versteckten Judensterne".

© privat

Susi. Die Enkelin von Haus Nummer 4 und die Zeit der versteckten Judensterne“ von Birgitta Behr ist im Verlag Ars-Edition erschienen. ISBN: 978-3-8458-1525-1. Gebundene Ausgabe, 112 Seiten, 12,99 Euro. Empfohlenes Lesealter ab zehn Jahren. Sandra Wendeborn half bei der grafischen Bearbeitung der Illustrationen und Texte. Lothar Lewien unterstützte die Autorin bei der historischen Recherche. Er verfasste auch den lesenswerten Beitrag über Gertrud Cohn auf der Internetseite der Berliner Stolperstein-Initiative. Birgitta Behr stellt ihr Buch an diesem Freitag, den 7. Oktober, um 19 Uhr in der Aula der Cecilien-Grundschule am Nikolsburger Platz 5 in Berlin-Wilmersdorf vor. Zahlreiche Kinderbuch-Rezensionen finden Sie auf unserer Themenseite.

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