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Die Siebtklässlerin Lina hat am Neuköllner Albrecht-Dürer-Gymnasium Nachhilfe in Geografie. Die Stunden werden über das Bildungspaket bezahlt und von der Initiative „Bildungsmentoren“ organisiert, bei der Lehramtsstudenten das Unterrichten üben.

© Kitty Kleist-Heinrich

Komplizierte Unterstützung: Nicht einmal die Hälfte nutzt das Bildungspaket

Viel Bürokratie für wenig Leistung: Schulen klagen schon jetzt über den Mehraufwand, der durch das Bildungspaket entsteht. Viele Berechtigte nutzen die Unterstützung nicht.

Lina und Mushakir sitzen vor ihren aufgeschlagenen Atlanten und suchen Russland. Liegt das in Asien oder Europa? Wie heißen die größten Städte des Landes? Und wo findet man sie? Die beiden zwölf Jahre alten Schüler des Neuköllner Albrecht-Dürer-Gymnasiums haben Nachhilfe in Geografie. Um sie in Anspruch nehmen zu können, musste die Schule den beiden Siebtklässlern bescheinigen, dass sie das Klassenziel nur mit Unterstützung erreichen würden – und beide mussten einen Berlinpass vorlegen. Ihre Eltern nehmen also entweder Leistungen des Jobcenters oder Unterstützung für Asylbewerber, Wohngeld oder Sozialhilfe in Anspruch.

Die Nachhilfe der Siebtklässler wird durch das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung finanziert, das die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) durchgesetzt hat und das im Januar ein Jahr lang gültig ist. Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien können damit zusätzliche Leistungen etwa für Mittagessen, Schulbedarf oder Vereine beantragen – oder wie im Fall von Lina und Mushakir Nachhilfe, die die Schule auch mit externen Anbietern organisieren kann. Von Anfang an jedoch gab es Kritik an fehlender Information und hohen bürokratischen Hürden für Eltern und Schulen, mit denen Maßnahmen von zum Teil nur wenigen Euro beantragt werden müssen. Auch die Auszahlung der Maßnahmen durch das Jobcenter verzögerte sich stark.

Berlinweit gibt es rund 200 000 Kinder und Jugendliche, die Anspruch auf Leistungen des Bildungspakets haben. Bis Ende Oktober, so die Antwort der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales auf eine kleine Anfrage des grünen Bildungsexperten Özcan Mutlu, hatte jedoch noch nicht einmal die Hälfte der berechtigten Kinder und Jugendlichen auch nur einen Antrag gestellt. Den Berlinpass, der an die Schüler ausgegeben wird, wenn diese Leistungen beantragt haben und den sie etwa in der Schule vorlegen müssen, hat davon wiederum nur etwas mehr als die Hälfte bekommen. „Bei diesen Menschen ist also noch kein einziger Cent angekommen“, sagt Özcan Mutlu. „Das ist ein Skandal.“

Für eintägige Klassenausflüge an Kitas und Schulen wurden in Berlin bis Ende Oktober rund 36 600 Einzelleistungen beantragt, davon die meisten in Neukölln, die wenigsten in Steglitz-Zehlendorf. Mittagessen wurde rund 56 000 Mal beantragt, Lernförderung etwa 21 000 Mal.

An der Albrecht-Dürer-Schule wird die Lernförderung vom Programm „Bildungsmentoren“ der Initiative „Studenten machen Schule“ organisiert. Seit einigen Jahren unterrichten bei „Studenten machen Schule“ Lehramtsstudierende Schüler in Projekten, sammeln so Praxiserfahrung, treten den Schülern aber ihrerseits bereits mit Methoden- und Fachkompetenz gegenüber.

Schulen müssen zusätzlichen Aufwand stemmen, Eltern sind überfordert

Zu Beginn des Schuljahres ist das neue Projekt der Studenten gestartet: Nachhilfe im Rahmen des Bildungspakets. Daran nehmen nun berlinweit 40 Schulen teil, die Schüler werden in Gruppen von bis zu sechs Schülern unterrichtet. „Richtig los ging es erst nach den Herbstferien“, sagt Programmreferent Jonathan Müller von den Bildungsmentoren. Anfangs sei die Informationslage an den Schulen und unter den Eltern sehr schlecht gewesen. Nachdem die Initiative mehrsprachige Infobriefe an die Eltern verschickt hatte, verbesserte sich das: Etwa 300 Schüler nehmen die Nachhilfe der Bildungsmentoren in verschiedenen Fächern nun in Anspruch.

Als kompliziert und bürokratisch werden die Leistungen des Bildungspakets jedoch noch immer häufig empfunden. Während Zuschüsse zu BVG-Tickets, zum Schulbedarf oder die Finanzierung von längeren Klassenfahrten vom Jobcenter abgewickelt werden, müssen andere Leistungen wie das Schulessen über den Caterer abgerechnet werden. Eintägige Schulausflüge und Nachhilfe externer Anbieter wiederum werden direkt von den Schulen organisiert. Die Schüler müssen dann mit dem Berlinpass nachweisen, dass sie einen Anspruch auf die Leistung haben. Erst danach kann die Schule die Mittel beim Schulamt beantragen, das wiederum das Geld aus einem Schulfonds erhält. Den Aufwand, der dabei anfällt, müssen die Schulen größtenteils ohne zusätzliche Ressourcen stemmen.

Auch für Eltern sind die Anträge recht aufwendig: Für jedes Kind und jede Maßnahme, sagt die Koordinatorin für das Bildungspaket im Jobcenter Steglitz-Zehlendorf, Annette Schröder, müsse die Familie einen Antrag auf einem DIN-A-4-Bogen stellen, Vorder- und Rückseite seien auszufüllen. Darüber hinaus müsse sie Nachweise wie Schulbescheinigungen einreichen. Was verbessert werden müsse, um das Antragsvolumen zu erhöhen, könne sie allerdings nicht sagen. Die Auszahlung immerhin funktioniere mittlerweile.

An den Schulen wird die Umsetzung des Bildungspaktes unterschiedlich bewertet. Rita Templiner von der Hermann-Sander-Grundschule in Neukölln etwa beschreibt die Nachfrage als „intensiv“, vor allem was die Kostenübernahme von Tagesausflügen angeht. Aus anderen Schulen heißt es, die Zahl derjenigen, die Leistungen beantrage, sei „überschaubar“ das Paket einfach ein „Unding“, so etwa ein Schulleiter aus Steglitz-Zehlendorf . Einig sind sich die Schulen darin, dass der Mehraufwand, der durch die Bearbeitung der Anträge beseht, enorm ist. „Im Verhältnis zu den Summen, die bewilligt werden, ist das schlicht Wahnsinn“, sagt etwa Georg Krapp vom Neuköllner Albert-Schweitzer-Gymnasium.

„Den Leuten wird nicht geholfen, ihnen werden nur Steine in den Weg gelegt“, sagt auch Özcan Mutlu. „Ihnen müsste das Gefühl genommen werden, als Bittsteller vor der Tür des Staates zu stehen.“ Die Menschen seien von den Ämtern bereits als Zuwendungsempfänger erfasst. Dass sie alles wiederholt nachweisen müssen, sei völlig sinnlos. Auch in den Schulen sei klar, wie viele Schüler lernmittelbefreit sind, wessen Eltern also Unterstützung bekommen. „Diese Kinder sollten automatisch am kostenlosen Mittagessen teilnehmen dürfen“, fordert Mutlu. Berlin habe seine Ermessensspielräume nicht ausgenutzt.

Die Senatssozialverwaltung weist die Verantwortung dafür von sich: Die bundesgesetzlichen Vorgaben zur Umsetzung des Bildungspakets seien eben „kompliziert und verwaltungsaufwendig“. Für einen Teil der Berechtigten sei schon die Erfordernis, einen Antrag zu stellen und sich über den Verfahrensweg zu informieren, „eine Hürde“. Besonders bei Kleinstbeträgen würden Berechtigte zum Teil davon absehen, überhaupt einen Antrag zu stellen. Eine hundertprozentige Inanspruchnahme, so die Verwaltung, sei sowieso bei keiner Leistungen zu erreichen.Davon sind die Berliner Zahlen auch weit entfernt.

An der Dürer-Schule immerhin werde die Nachhilfe gut angenommen, sagt Schulleiter Jörg Freese. Für die Schüler sei es sinnvoll investierte Zeit. So auch für Lina und Mushakir: Nach den beiden Stunden können sie Flüsse und Vegetationszonen korrekt in die Karte von Russland einzeichnen.

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