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Grundschüler sitzen in einer Klasse an ihren Tischen und schreiben.

© Mike Wolff

Lese-Rechtschreib-Schwäche: Silbe für Silbe

Rund 20 000 Berliner Schüler leiden unter Lese-Rechtschreib-Schwäche und es werden immer mehr. Frühe Therapie ist wichtig. Zu Besuch bei Zweitklässlern in Lichterfelde.

Ta-schen-lam-pe ist ein Wort mit vier Silben. Also wird vier Mal in die Hände geklatscht, dann machen alle vier große Schritte seitwärts. Schwuppdiwupp stehen die drei Knirpse und ihre Lehrerin an der Wand, die Kinder dürfen sich ein Glassteinchen aus der Schatzkiste nehmen. Und weil Karl, Emilio und Artur (Namen der Kinder geändert) schon vier Runden Silbenklatschen geschafft haben, bekommen sie von Angret Buchner zur Belohnung noch wahlweise einen Sticker oder Stempel in ihre Übungsmappen. Die Sonderpädagogin lobt und motiviert – der Spaß am Spiel mit den Worten hat in der Leseförderung oberste Priorität.

Karl, Emilio und Artur besuchen im zweiten Schuljahr die Mercator-Schule in Lichterfelde. Alle drei haben Probleme, Lesen zu lernen. Sie vertauschen die Buchstaben, können Wörter nur schwer in Silben zerlegen, haben Schwierigkeiten, Laute korrekt zuzuordnen und Buchstaben zu Wörtern zusammenzufügen. Alles Merkmale, die auf eine Lese-Rechtschreib-Schwäche hindeuten. „Wir beobachten, dass Lesen und Schreiben immer öfter zum Problem wird“, sagt Angret Buchner. „Um Probleme in höheren Klassen zu vermeiden, müssen wir früh mit Fördern beginnen.“

Deshalb kommen Karl, Emilio und Artur einmal pro Woche zur Leseförderung. Sie üben Buchstabieren und Reimen, experimentieren mit Lauten, Worten und Silben. Alles spielerisch – die drei sind offensichtlich mit Spaß bei der Sache. Grundlage ist der Kieler Leseaufbau: ein sonderpädagogisch fundiertes Programm, das am Spracherwerb orientiert ist und die Grundlagen des Lesens trainiert.

Die Mercator-Schule liegt in der Thermometer-Siedlung in Lichterfelde-Süd und gilt als Brennpunktschule. Sie ist eine der 219 Schulen, die von diesem Februar an eine Sonderförderung durch das Bonusprogramm für Schulen in schwieriger Lage bekommen. Für viele Kinder an der Mercator-Schule ist Deutsch nicht die Muttersprache. „Aber auch Kinder mit deutscher Muttersprache haben immer häufiger Probleme, Lesen und Schreiben zu lernen“, sagt Rektorin Marianne Friedrich. Das liege unter anderem daran, dass in vielen Familien kaum noch vorgelesen und nur wenig miteinander gesprochen wird, sagt die koordinierende Erzieherin Marion Sulke.

Laut Klaus Seifried, Leiter des Schulpsychologischen Beratungszentrums Tempelhof-Schöneberg, haben etwa 30 Prozent der Schüler in Berlin Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben oder Rechnen; häufig treten Lese-Rechtschreib- Schwäche und Rechenschwäche gemeinsam auf. In vielen Fällen handelt es sich dabei um vorübergehende Schwierigkeiten, die sich durch gezielte Förderung auffangen lassen. Vier bis sechs Prozent der Bevölkerung, in Deutschland etwa fünf Millionen Menschen, leiden unter einer dauerhaften, gravierenden Lese-Rechtschreib-Störung. Allein unter Berlins Schülern könnten 20 000 betroffen sein.

Der Umgang mit Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten im Unterricht ist in der Berliner Grundschulverordnung verankert. Betroffene Kinder haben demnach Anspruch auf zusätzliche Förderung, etwa in temporären Lerngruppen. Zudem können Schüler mit festgestellten Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten unterstützende Maßnahmen bei schriftlichen Arbeiten in Anspruch nehmen.

An der Mercator-Grundschule gilt dieser sogenannte Nachteilsausgleich derzeit für etwa zehn Kinder. Sie bekommen bei schriftlichen Arbeiten mehr Zeit, dürfen Hilfsmittel wie Wörterbücher benutzen, können manche Tests mündlich ablegen statt schriftlich oder bekommen die Aufgaben vorgelesen. Bei klinisch diagnostizierter Lese-Rechtschreib-Störung kann zudem die Benotung der Rechtschreibung für bis zu zwei Jahre ausgesetzt werden. Bestehen die Probleme am Ende der Grundschulzeit fort, kann der Nachteilsausgleich bis zum Ende der 9. Klasse fortgesetzt werden.

Nicht jedes Kind brauche alle Hilfen, die die Verordnung erlaube, sagt Rektorin Friedrich. Wichtig sei, die Schüler trotz des Nachteilsausgleichs zu fordern. „Wir dürfen sie nicht in Watte packen. Sonst ruhen sie sich auf ihrer Diagnose aus.“

Die Feststellung von Lese- und Rechtschreib-Schwierigkeiten erfolgt in mehreren Schritten. Mit der Lernausgangslage Berlin, dem sogenannten Laube-Test, wird in der ersten Klasse der Sprachstand erhoben. Am Ende des zweiten Schuljahres absolvieren alle Kinder die Hamburger-Schreib-Probe, einen Rechtschreibtest, der Hinweise auf das Vorliegen einer Lese- und Rechtschreib-Schwäche gibt und die Grundlage bildet für weitere Fördermaßnahmen. Führen diese nicht zum Erfolg, kann die Schule für eine umfangreiche psychologische Diagnostik einen Schulpsychologen hinzuziehen.

„Wir brauchen dringend mehr pädagogisch-therapeutische Angebote in den Schulen, die möglichst früh, teilweise schon im Vorschulbereich Risikokinder erkennen und unterstützen“, sagt Schulpsychologe Seifried. Einige Schulen haben eine Kooperation mit freiberuflichen Lerntherapeuten aufgebaut. In Mitte, Friedrichshain-Kreuzberg und Tempelhof-Schöneberg gibt es vereinzelt Lerntherapie in der Schule. „Gerade an Ganztagsschulen ist es wichtig, therapeutische Angebote in den Schulalltag zu integrieren, soweit das möglich ist“, betont Seifried.

Hierbei spielen auch die Eltern eine zentrale Rolle. Schulleiterin Marianne Friedrich hat beobachtet, dass es Vätern und Müttern oft sehr schwer fällt zu akzeptieren, dass ihr Kind etwas noch nicht kann; Eltern seien oft nicht dankbar für den Nachteilsausgleich, sondern skeptisch, wenn Sonderregeln für ihr Kind gelten sollen. Psychologen und Pädagogen raten Eltern, ihr Kind für kleine Erfolge zu loben, statt Fehler zu dramatisieren – und Geduld zu haben, auch wenn es ihnen schwerfällt. Und Marianne Friedrich hat noch einen ganz praktischen Rat für Eltern: „Sie sollten ihren Kindern vorlesen und zwar auch mal schwierige Texte.“

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