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Der Heidelberger Schulleiter Ernst Fritz-Schubert (Mitte) hat das Fach "Glück" als Erster auf den Stundenplan gesetzt.

© Ronald Wittek/dpa

Pilotprojekt an drei Schulen: Berliner Schüler lernen das Fach "Glück"

Schwänzen, Mobbing, Gewalt: Etliche Schulen in Berlin gelten als schwierig, viele Schüler sind demotiviert. Ein Pilotprojekt an drei Sekundarschulen bietet jetzt einen anderen Lösungsansatz.

Im zweiten Unterrichtsblock fliegen heute Eier. 48 Schüleraugen werden groß und größer, als sie die Aufgabe für diese Stunde hören: ein rohes Ei so gut polstern, dass es einen Sturz aus dem Fenster überlebt. Klebeband und Strohhalme – das ist alles, was sie benutzen dürfen. Getuschel unter den Schülern. Einer sagt: „Das ist viel besser als Unterricht.“

Normalerweise hätte die Klasse 8c der Jean-Krämer-Schule im Reinickendorfer Ortsteil Wittenau montags um zehn Uhr Ethik. Seit einigen Wochen aber haben sie stattdessen „Glück“. Das Pilotprojekt ist Anfang dieses Schuljahres an drei integrierten Sekundarschulen in Berlin gestartet. Außer der Jean-Krämer-Schule machen die Hermsdorfer Carl-Bosch- Schule und die Caspar-David-Friedrich- Schule in Hellersdorf mit.

Das Ziel: Mehr Lebensfreude, mehr Selbstbewusstsein

Ziel des Projekts ist es, die Persönlichkeit der Kinder zu stärken. Ihnen die Erfahrung zu geben, dass sie selbst zu ihrer Zufriedenheit beitragen können. „Es geht darum, die Stärken der Schüler ins Zentrum zu stellen“, sagt Friederike Walter, die mit Christina Bachmann der Klasse 8c jeden Montag 90 Minuten Glücksunterricht gibt. Sie sind zwei von 22 Berliner Lehramtsstudenten die sich neben ihrem normalen Studium seit Mai dieses Jahres zum „Glückslehrer“ ausbilden lassen. Die Dozenten für die Kurse kommen aus Heidelberg, denn dort hat das Projekt seinen Ursprung.

Schon 2007 führte dort Oberstudiendirektor Ernst Fritz-Schubert an seiner Schule das Fach „Glück“ ein. Sein Ziel: Lebensfreude vermitteln – für ein besseres Lernen sowie für seelische und körperliche Gesundheit. Er gründete das Fritz-Schubert-Institut für Persönlichkeitsentwicklung, das den Unterricht mit der Universität Osnabrück auch wissenschaftlich evaluiert hat. Nach einem Jahr schätzten die Schüler die Schulgemeinschaft wertvoller ein und sahen häufiger einen Lebenssinn für sich selbst.

Inzwischen wird das Fach „Glück“ in mehr als 100 Schulen in Deutschland und Österreich unterrichtet. In Deutschland ist es bislang in Baden-Württemberg und Bayern Teil des Stundenplans. Jetzt ist es auch in Berlin angekommen.

"Eine schwierige Schule"

„Glück und Schule – wie soll das zusammenpassen?“, war Volker Kaisers erste Reaktion, als er von dem Pilotprojekt hörte. Seit vier Jahren ist der 63-Jährige Schulleiter an der Jean-Krämer-Schule. 550 Schüler, 75 Prozent von ihnen haben einen Migrationshintergrund, drei von vier sind von der Lehrmittelzuzahlung befreit, zudem hat die Schule eine der höchsten Schwänzerquoten berlinweit: „Die Jean-Krämer-Schule ist eine schwierige Schule“, sagt Volker Kaiser. Ausgerechnet hier sollte Glück gelingen? Dann schaute er sich die Sache genauer an und beschloss, einen Versuch zu wagen. Mit der Bildungsverwaltung einigte er sich darauf, „Glück“ in der achten Klasse im Rahmen des Fachs Ethik zu unterrichten. „Die Inhalte stimmen in vielen Punkten überein“, sagt Gabriella Hill, Klassen- und Ethiklehrerin der 8c. Auch sie musste zweimal nachdenken, bevor sie ihren Unterricht aus den Händen gab. Mittlerweile aber ist sie sicher: „Unsere Klasse wird von den offenen Lernformen langfristig profitieren.“

Kern des Pilotprojekts ist ein erlebnisorientierter Unterricht. Und so gilt es heute eben, einen Schutzmantel für rohe Eier zu basteln. In Vierergruppen beraten die Schüler ihre Taktik. Während Adrianna und Gülbahar schon eifrig Strohhalme auspacken und Kaan den Mädchen Tipps gibt, sitzt Fatima wissend daneben. „Das Fach macht Spaß. Wir lernen etwas über uns und darüber, wie wir uns fühlen“, sagt sie. Plötzlich ein Aufschrei. Auf dem Tisch der Gruppe dahinter fließt Eiweiß langsam Richtung Tischkante. Aber auch das ist Teil des Glücksunterrichts: Die Schüler sollen lernen, dass sie nach Rückschlägen aus eigener Kraft wieder aufstehen können. Schon liegt ein neues Ei bereit – und Sahin hat eine mutige Idee: Er will aus Strohhalmen einen Fallschirm bauen, damit das Ei sanft landet.

Kaan (li.) und Fatima zeigen ihr gepolstertes Ei.
Kaan (li.) und Fatima zeigen ihr gepolstertes Ei.

© Florian Schumann

In einer anderen Gruppe gibt es Streit. Klassenlehrerin Gabriella Hill schnappt sich die beiden Schüler und klärt die Situation vor dem Klassenzimmer, während drinnen alles normal weiterläuft. „Die Gruppenarbeit führt zu Diskussionen. Da kommen Konflikte ans Licht, die sonst mit Fäusten auf dem Schulhof ausgetragen würden“, sagt Hill, die mit ihrer Kollegin Sigrun Greiner jede Glücksstunde begleitet und die Studentinnen unterstützt. Hill weiß aber auch: „Das ist eine absolute Luxussituation, die es im normalen Unterricht niemals gibt.“

Wie soll man das Fach benoten?

Der Glücksunterricht kostet die Schule für ein Jahr 3000 Euro pro Klasse. In der Jean-Krämer-Schule nehmen mit fünf achten Klassen und einer Willkommensklasse sechs Klassen teil. Volker Kaiser finanziert das Projekt über Gelder aus dem Bonusprogramm. Die Ausbildungskosten für die Studenten übernimmt der Münchener Verein „Integration – Zukunftsperspektive für Kinder“. Dieser kümmert sich auch vor Ort um die Koordination mit den Schulen.

Bei einem Thema herrscht allerdings noch Unklarheit: „Noch wissen wir nicht, nach welchen Maßstäben wir das Fach benoten“, sagt Lehramtsstudentin Friederike Walter. Der Senat sehe aber eine Bewertung vor. Laut Schulleiter Kaiser werde sich diese aber eher daran orientieren, inwieweit sich Schüler auf das Konzept einlassen und sich im Laufe des Schuljahres individuell entwickeln.

Ein Ei nach dem anderen fliegt auf den Asphalt. Dann kommt das Fallschirm-Ei. Und tatsächlich – „Es lebt!“, ruft Sahin. Der Mut hat sich gelohnt. Als alle wieder im Klassenzimmer sind, kommt der wichtigste Teil: die Reflexion. „Wofür könnte ein Riss im Ei stehen, wenn ihr das Ei wärt?“, fragt Friederike Walter. „Schlechte Noten“, „Depression“, „gemobbt werden.“ Und die Strohhalme außen rum, was könnten die bedeuten? „Familie vielleicht“, „Freunde“ – die Antworten kommen schnell. Schon zu Beginn des Projekts fiel Gabriella Hill auf: Auch Schüler, die im Fachunterricht nicht gut mitarbeiten, melden sich im Glücksunterricht plötzlich. „Der Stoff berührt sie persönlich. Und zu sich selbst hat jeder eine Meinung“, sagt Hill.

Als die Schüler am Ende der Stunde ihre „Glückshefte“ öffnen, strahlt jeden ein goldener Briefumschlag an – eine kleine Schatztruhe mit Dutzenden Zetteln. Darauf stehen die Stärken der Kinder, wie ihre Mitschüler sie sehen. „Die meisten trauen sich am Anfang nicht, ihre eigenen Stärken zu formulieren, haben vielleicht noch nie darüber nachgedacht“, sagt Friederike Walter. Den anderen ihre positive Seiten zu attestieren, falle leichter. Jetzt aber sollen sie fünf Stärken aufschreiben, die auf sie selbst zutreffen. Viele Schüler zücken sofort ihren Stift. Noch vor ein paar Wochen wäre das unmöglich gewesen.

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