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Pisa-Studie: „Wir sind einfach zu reich“

Wohlfühlen statt Leistung: Wegen schlechter Pisa-Ergebnisse stehen skandinavische Länder unter Druck.

Die Skandinavier ein Vorbild in der Schul- und Bildungspolitik? Davon kann man schon seit Jahren nicht mehr sprechen. Die skandinavischen Länder haben sich auseinanderentwickelt, wie auch die letzte Pisa-Studie belegt. Während Finnlands 15-Jährige hervorragende Ergebnisse im Leseverstehen, in Mathematik und den Naturwissenschaften aufweisen, schneiden die Jugendlichen in Norwegen und Schweden seit Jahren höchst mittelmäßig ab. Lediglich im Leseverstehen erreichen die jungen Schweden – vor allem dank der Mädchen – eine gute Platzierung. Der Anteil der Jungen unter den schwächsten Lesern ist allerdings doppelt so hoch, die bereits schwachen Leser sind gegenüber der vorigen Pisa-Studie noch schwächer geworden.

Weit unterdurchschnittlich fällt das Interesse schwedischer Jugendlicher für die Naturwissenschaften aus. Die Vorsitzende der Lehrergewerkschaft „Lärarförbundet“ klagt: „In den naturwissenschaftlichen Fächern haben wir einen höheren Anteil an Lehrern ohne Ausbildung.“ Inzwischen hat jeder vierte Gymnasiallehrer und jeder sechste Gesamtschullehrer (Klasse 1 bis 9) Schwedens keinen pädagogischen Abschluss – eine Folge der Kommunalisierung seit 1990, die den Kommunen die Zuständigkeit und Finanzierung der Schulen auferlegte.

Schweden gehört traditionell zu den Ländern mit den geringsten Unterschieden zwischen den Schulen, das System ist durchlässig – allerdings auf Kosten einer Angleichung der Schülerleistungen nach unten. Gleichwohl entwickeln sich die Schulen in den letzten Jahren auseinander. Skolverket, die nationale Schulbehörde, sorgt sich, dass 30 Prozent der Gymnasialschüler den Schulabschluss innerhalb von drei Jahren nicht schaffen, also keine berufliche Ausbildung abschließen – angesichts der im europäischen Vergleich sehr hohen Zahl von Arbeitslosen unter den 25-Jährigen ein Alarmzeichen. Anders als in Deutschland kennt Schweden kein duales System, die Berufsausbildung ist ins Gymnasium integriert.

Schwedens konservativer Ausbildungsminister Jan Björklund zeigte sich nach dem Bekanntwerden der neuen Pisa-Ergebnisse denn auch beunruhigt – überrascht war er aber nicht. Björklund macht eine seiner Meinung nach verfehlte sozialdemokratische Bildungspolitik der letzten Jahrzehnte für die Probleme verantwortlich. Ihre Kennzeichen seien zu geringe Leistungsanforderungen, ein niedriger Status des Lehrerberufs, mangelnde Disziplin in den Schulen sowie Angst davor, Leistungen zu messen. Björklund fordert jetzt frühere Leistungskontrollen und eine neue Lehrerausbildung. Auch werden ab 2010 diejenigen Gymnasiasten beim Hochschulzugang belohnt, die kontinuierlich Mathematik und Fremdsprachen belegen. Björklund empfiehlt allen, den Blick nach Finnland zu richten.

In der Tat zeigt Finnland, dass ein hohes Wissensniveau und soziale Gerechtigkeit keine Gegensätze sein müssen. Die finnische Unterrichtsministerin Sari Sarkomaa kommentierte die Pisa-Ergebnisse mit den Worten: „Die größte Herausforderung für die Schule ist es, schwachen Schülern zu guten Leistungen zu verhelfen und gleichzeitig die leistungsstarken zu motivieren, ihr ganzes Leistungsvermögen abzurufen.“ Die schwedischen Lehrergewerkschaften verweisen auf das hohe Ansehen finnischer Lehrer. Diese absolvieren eine fünfjährige Ausbildung und können sich in den nächsten beiden Jahren über eine Lohnerhöhung von elf bis zwölf Prozent freuen.

Als Schwächen im finnischen System werden in einem Kommentar der finnischen Zeitung „Huvudstadsbladet“ die Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen erwähnt sowie die Tatsache, dass rund zehn Prozent der 15-Jährigen sich in der Schule unwohl fühlen. Die Verfasserin des Leitartikels äußert auch die Befürchtung, Finnland könne seine führende Position in der Bildung verlieren, wenn die Einwanderung gemäß dem Wunsch der Regierung zunähme und der Anteil der Kinder ausländischer Herkunft ähnlich hoch werde wie in Schweden oder Dänemark.

Anders als Schweden konnten Dänemarks Zeitungen nach dem letzten PisaTest Fortschritte melden. Innerhalb der OECD-Länder haben die dänischen Jugendlichen sich von Rang 26 auf 18 verbessert. Beim Leseverstehen kamen sie auf Platz 15 und in Mathematik sogar auf Rang 10. „Es ist erfreulich, dass unsere Arbeit Früchte zu tragen beginnt, aber es gibt noch Möglichkeiten, besser zu werden“, kommentierte Unterrichtsminister Bertel Haarder die Ergebnisse. Nach früheren Enttäuschungen entschied man sich in Dänemark, unter anderem durch den Einsatz obligatorischer Tests das Leistungsniveau anzuheben. Auch in den dänischen Medien geht der Blick zum finnischen Nachbarn. Der dänische Pisa-Sprecher Niels Egelund verweist auf die historischen und kulturellen Unterschiede Finnlands. Dort habe Bildung traditionell einen besonderen Stellenwert, weil Finnland lange Zeit von Armut, Krieg und Abhängigkeit vom großen östlichen Nachbarn geprägt worden sei. Wie sehr Finnland Bildung und den Lehrerberuf wertschätze, zeige etwa, dass man sich in Finnland erlauben könne, 90 Prozent der Bewerber um eine Lehrerausbildung abzulehnen. Der dänische Unterrichtsminister hingegen hängt die Latte niedriger: „Für uns geht es nicht um die Meisterschaft, wir haben einige soziale und Integrationsprobleme zu lösen. Außerdem will ich gerne betonen, dass finnische Lehrer nicht mehr verdienen als dänische.“

Während die nordischen Länder im Allgemeinen gelassen auf neue Pisa-Ergebnisse reagieren, war das in Norwegen diesmal anders. Norwegens Schüler lagen erstmals unter dem Durchschnitt der OECD-Länder. Der Bildungsforscher Helge Ole Bergesen von der Universität Stavanger meint, in Norwegen habe sich eine Schulkultur entwickelt, in der das Lernen nicht mehr wichtig sei. Die Schüler sollten sich nur wohlfühlen. Inzwischen fürchtet die Wirtschaft, dass zu wenige qualifizierte Jugendliche ausgebildet werden. Man wäre schon dankbar, wenn Norwegen wenigstens die dänischen Mathematikergebnisse erreichen könnte.

Hingegen hält der Didaktikprofessor Svein Sjöberg aus Oslo die Pisa-Studie für überschätzt. Gemeinsam mit anderen europäischen Kollegen kommt er in einer Studie zu dem Fazit: Pisa hält nicht, was es verspricht. Die Ergebnisse seien geprägt von den unterschiedlichen Einstellungen der Schüler in vielen Ländern zu Unterricht und Leistung. Im Norden würden die Jugendlichen kaum an die Ehre der Nation denken, wenn sie an Pisa teilnähmen, während Schüler in Ostasien zu den Klängen der Nationalhymne in den Prüfungsraum einmarschierten und die Eltern in gespannter Erwartung draußen warteten. Auch schafften es 15-jährige Norweger nun einmal nicht, zwei Stunden an wortreichen Aufgaben zu sitzen, die von ihnen als langweilig und konstruiert empfunden würden. Da die Teilnahme an Pisa keine Konsequenzen habe, sei das Risiko fehlender Motivation offensichtlich. Norwegen hat Vollbeschäftigung und wirbt Arbeitskräfte aus anderen Ländern an. „Norwegische Jugendliche können sich gemütlich zurücklehnen. Wir sind einfach ein wenig zu reich“, so der Bildungsexperte.

Gerhard Austrup[Stockholm]

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