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Was das Känguru sagt. Szene aus „(K)ein Kinderspiel“.

© Promo/Polizei

Prävention gegen sexuelle Gewalt: Ein Theaterstück als Anleitung zum Neinsagen

Über 650 Fälle von sexuellen Übergriffen auf Kinder gibt es im Jahr in Berlin. Mit einem Theaterstück klärt die Polizei Grundschüler und Eltern über Gefahren auf.

Nach dem Zähneputzen noch Süßigkeiten und Fernsehen? Fred und Frieda finden ihren neuen Babysitter cool. Doch dann, auf der Couch, will er kuscheln und umarmt sie so komisch. „Das verraten wir aber nicht Mama, dann verrate ich auch nichts von den Keksen“, sagt er. Fred und Frieda haben ein mulmiges Gefühl und beschließen, lieber ins Bett zu gehen. In ihrem Zimmer schließen sie sich vorsichtshalber ein.

Die Bühne wird dunkel. Nun hüpft ein mannshohes Plüsch-Känguru mit Polizeimütze und -weste über den Bretterboden im Metronom, einer Kinderkultureinrichtung in Tegel. Gerade wird das Theaterstück „(K)ein Kinderspiel“ vor Grundschulklassen aufgeführt. „Huggy“ springt in den Lichtkegel und fragt: „Und Kinder? Sollen Fred und Frieda das für sich behalten?“ – „Nein!“, ruft es ihm laut aus 100 Kinderkehlen entgegen. Schüler der Justus-von-Liebig-Grundschule aus Friedrichshain sind zu Besuch und voll dabei: Viele sind von ihren Sitzen aufgesprungen, einige melden sich und rufen: „Vorsicht, der Mann ist böse!“

Huggy erklärt: „Wenn man ein seltsames Bauchgefühl hat, dann sollte man auf jeden Fall mit jemandem reden. Erst dann geht das Gefühl wieder weg.“ Dann singen alle: „Seid ihr auch noch so klein, entscheidet ihr allein! Kommt euch etwas komisch vor, dann schreit ganz laut im Chor: Nein, nein, nein!“

Polizeihauptkommissar Dirk Lochau steht am Rand der Bühne und lächelt: „Es ist jedes Mal wieder beeindruckend, wie sehr das Stück die Kinder anspricht. Sie haben trotz des schwierigen Themas Spaß an der Veranstaltung.“ Dann wird er ernst. „Die wenigsten sexuellen Übergriffe auf Minderjährige beginnen auf der Straße“, sagt Lochau, Präventionsbeauftragter bei der Polizei. „In drei von vier Fällen sind die Täter Bekannte oder Vertraute“: der Trainer im Sportverein, der Nachbar, ein Freund der Familie.

Sie alle kommen in dem eineinhalbstündigen Theaterstück vor, das den Tagesablauf der Geschwister Frieda und Fred zeigt. Aber auch ein „Mann im Park“ ist Gegenstand: Er hält Frieda ein Foto von einem Hundebaby hin und fragt, ob sie mit ihm nach Hause kommen will, „zum Gassiführen“.

Das Alarmgefühl im Bauch

In jeder der fünf Szenen, gespielt von einer Schülertheatergruppe und Polizisten, treffen die Kinder auf einen Erwachsenen, der bei ihnen ein mulmiges Gefühl auslöst. Känguru Huggy erarbeitet mit dem Publikum, was an diesen Szenen ungewöhnlich ist und wie sich das „Alarmgefühl im Bauch“ bemerkbar macht. Dann gibt es Tipps, wie sich die Kinder am besten verhalten.

Etwa 3000 Berliner Kinder erreicht „(K)ein Kinderspiel“ jährlich. Es gibt zwei Standorte: die Polizeidirektion 1 mit dem festen Spielort Metronom, in dem das Stück rund 30 Mal im Jahr aufgeführt wird. Und die Polizeidirektion 5, wo es bis zu zehn Mal jährlich in einer Schule stattfindet. „Meist kommen Schulen oder Eltern auf uns zu, wenn es aktuelle Vorfälle gab“, sagt Lochau. Das kann alles sein: ein sexueller Übergriff unter Kindern genauso wie ein Exhibitionist auf dem Schulweg. „Lehrer werden leider oft alleingelassen. Unser Theaterstück ist ein Baustein, die Kinder zu stärken und Eltern die Möglichkeit zu geben, zu Hause das sensible Thema aufzugreifen.“

„(K)ein Kinderspiel“ wurde 2005 von Mitarbeitern der Polizei Berlin mit Unterstützung des Grips-Theaters und der Stiftung Hänsel und Gretel entwickelt. Mittlerweile im zehnten Jahr, ist es über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Bis Nordrhein-Westfalen kommen Anfragen. „Ich kenne wenig vergleichbare Präventionsprojekte, die so nachhaltig wirken“, sagt Lochau. Die Universität Potsdam hat „(K)ein Kinderspiel“ evaluiert, und die Ergebnisse sprechen für sich: Auch ein halbes Jahr später erinnern sich die kleinen Zuschauer teilweise noch im Wortlaut an die Szenen und Lieder. Carola Naumann, Lehrerin der Justus-von-Liebig-Grundschule, bestätigt: „Wir besprechen solche Dinge teilweise auch im Unterricht. Aber im Theater live in solchen Situationen dabei zu sein, ist viel intensiver als Theorie im Klassenzimmer.“

Polizei rät von sichtbaren Namensschildern ab

Den Aufführungen voraus geht ein Elternabend, bei dem ein Polizeibeamter und ein Theatermitarbeiter das Stück erklären und Eltern über unbedachte Redewendungen und Verhaltensweisen aufklären. Zum Beispiel, warum es keine gute Idee ist, Namensschilder an Ranzen oder die Heckscheibe des Familienwagens zu kleben. „Das wusste ich nicht“, sagt Birgit Marbach, Mutter eines Drittklässlers. Ihr Sohn geht seit Kurzem allein nach Hause. „Da muss jemand nur den Namen ablesen und kann sich als ,Freund der Familie‘ ausgeben.“ Kinder schöpfen Vertrauen, wenn ein Fremder den Namen weiß.

Marbach war, wie viele Eltern, anfangs skeptisch, als die Schule für die Teilnahme warb: „Muss man Kinder so früh mit so einem Thema belasten?“ – „Ja, muss man“, sagt Lochau. 650 Fälle von sexuellen Übergriffen auf Kinder werden jedes Jahr in Berlin angezeigt. Die Dunkelziffer liegt zwölf bis 20 Mal höher. „Man kann nicht früh genug beginnen, Kinder zu sensibilisieren.“

Und was können Eltern tun, damit das Kind von seinem Bauchgefühl erzählt? „Offen bleiben. Nachfragen, wie der Tag war, woher das neue Spielzeug kommt. Nicht sagen: ,Lass dich nicht von Fremden anquatschen‘“, erklärt Lochau. Fürs Anquatschen kann ein Kind ja nichts. „Schuld ist immer der Erwachsene. Wenn das klar wird, können sich Kinder auch öffnen.“ Und wie geht es dann weiter? Lochau: „Am besten bei der Polizei melden. Das geht bei jeder Dienststelle. Wir haben Opferschutzbeauftragte, die dann eingeschaltet werden und eng mit externen Beratungsstellen wie dem weißen Ring, Strohhalm e. V. und anderen zusammenarbeiten.“ Birgit Marbach ist jedenfalls überzeugt: „Ich habe jetzt ein besseres Gefühl. Mein Kind trällerte noch Tage später fröhlich: ‚Nein-nein-nein – ich bin nicht allein‘.“

Sabine Grüneberg

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