zum Hauptinhalt
Würdenträger. Die Schülerbischöfe Sophie, Antonia, Can und Yongyut (v. l.).

© Thilo Rückeis

Projekt der Evangelischen Kirche: Die Schülerbischöfe aus Charlottenburg

Vier Jungen und Mädchen sind zu Berliner Schülerbischöfen ernannt worden. Sie engagieren sich für Obdachlose. Ein Besuch.

Vor der Bahnhofsmission am Zoo tummeln sich rund 70 Menschen. Es sind fast ausschließlich Männer unterschiedlichen Alters, nur vier Frauen sind darunter. Sie tragen Wollmützen und Winterjacken. Einige warten in der Schlange am Eingang auf die nächste Essensausgabe. Andere stehen auf der Straße, rauchen, reden oder diskutieren. Dazwischen die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Bahnhofsmission – zu erkennen an ihren blauen Westen. Obendrüber rauscht die S-Bahn.

Ein paar Meter weiter stehen Sophie, Yongyut, Antonia und Can. Sie gehen in die vierte, sechste, neunte und zehnte Klasse der Evangelischen Schule Charlottenburg. Anfang des Monats wurden sie in ihr Amt als Schülerbischöfe eingewiesen. Heute sind sie zum ersten Mal in dieser Mission unterwegs.

Seit 2010 gibt es in Berlin Schülerbischöfe. Jedes Jahr beschäftigen sich Kinder und Jugendliche einer evangelischen Schule mit einem selbst gewählten Thema. Für dieses Jahr haben sich die Schüler aus Charlottenburg für das Thema Obdachlosigkeit entschieden. „Wir wollen den Menschen näherbringen, was es bedeutet, obdachlos zu sein“, sagt die 14-Jährige Antonia. Viele Leute hätten Berührungsängste und Vorurteile. Das möchten die vier Schüler gerne ändern. „Anstatt wegzugucken, sollten die Menschen lieber hingucken“, meint der ebenfalls 14-jährige Can.

Mit gutem Beispiel möchten die vier heute vorangehen. Gemeinsam mit ihrer Schulleiterin Christiane Kleß warten sie vor der Bahnhofsmission auf eine Lieferung mit Geschenken. In der Schule haben sie und ihre Mitschüler in den vergangen Wochen zahlreiche Päckchen gepackt, gefüllt mit warmer Kleidung, Zahnbürsten, Rasierern, Schokolade und anderen Dingen. Diese Weihnachtsgeschenke möchten sie nun persönlich den obdachlosen Menschen überreichen. Wenige Minuten später bringt eine Lehrerin mit einem Minibus die in Geschenkpapier verpackten Päckchen vorbei. Das Auto ist bis obenhin gefüllt – rund 150 Pakete sind zusammengekommen. Tatkräftig eilen die Schülerbischöfe los. Gemeinsam mit Mitarbeitern der Bahnhofsmission laden sie die Geschenke auf einen Rollwagen und schieben die erste Fuhre in den Speiseraum – das Herzstück der Bahnhofsmission. Hier ist es warm und gemütlich. Auf den Tischen stehen Weihnachtssterne und Teller mit Lebkuchen. Von der Decke hängen Tannenzweige und Weihnachtsdekoration. Fünfzig Leute haben hier gerade ihr Mittagessen beendet und sitzen noch zum Kaffee zusammen an den Tischen. Sie staunen über den jungen Besuch, der jetzt beginnt, ihnen Geschenke zu überreichen.

Viele der „Gäste“, wie obdachlose Menschen hier ausschließlich genannt werden, haben keine Unterkunft. Sie übernachten auch im Winter unter Brücken oder in Parkanlagen. „Einmal am Tag dürfen sie sich hier aufwärmen“, sagt Iris Nowicki, die stellvertretende Leiterin der Bahnhofsmission. Zwei weitere Mahlzeiten werden morgens und abends durchs Fenster gereicht. Außerdem werden sie mit Kleidern und Schlafsäcken versorgt.

Nicht alle der anwesenden Gäste leben auf der Straße. Ein älterer Mann, den sie einfach nur „Opi“ nennen, kommt einmal am Tag zum Essen, da er von seiner Rente nicht leben kann. Opi freut sich sehr über das Geschenk, das ihm der 11-Jährige Yongyut überreicht. „Danke“, sagt er und streckt ihm seine Hand entgegen. „Wie heißt du?“, begrüßt ein anderer Mann, der im Rollstuhl sitzt, die neunjährige Sophie. Die Viertklässlerin ist die jüngste der Bischöfe. Sie lächelt freundlich und eilt mit dem nächsten Päckchen weiter.

Niemand der Anwesenden möchte sein Geschenk sofort aufmachen. Sie verstauen die Päckchen in Plastiktüten und Rucksäcken. „Ich möchte das ganz in Ruhe später machen“, sagt eine etwa 40-jährige Frau. Als einer der Ehrenamtlichen mit der Glocke läutet, wissen alle sofort, dass die Mittagsrunde zu Ende ist. Nun müssen sie wieder in die Kälte, denn draußen warten die nächsten 50 Gäste, die ebenfalls eine Mahlzeit bekommen sollen. Die Schülerbischöfe eilen unterdessen wieder nach draußen zum Auto. Die übrigen 100 Geschenke bringen sie in einen Lagerraum. „Die sind für die Weihnachtsfeier, die an Heiligabend hier stattfindet“, erklärt Yongyut.

Es sei ein „schönes und erfüllendes Gefühl“ gewesen, diesen Menschen heute hier zu begegnen, findet Antonia. Die Arbeit der vielen ehrenamtlichen Mitarbeiter schätze sie sehr. Einen Tag lang hatte sie mit ihrer Klasse zuvor in der Bahnhofsmission ausgeholfen, um sich auf das Projekt vorzubereiten. Sie schmierten Brote und halfen bei der Kleiderausgabe.

Ihre gesamte Schule beschäftigt sich seit Beginn des Schuljahres mit dem Thema Obdachlosigkeit. Can interviewte mit seinen Klassenkameraden einen Obdachlosen. Yongyut und Sophie sprachen mit ihren Lehrern über Gründe, weshalb Menschen obdachlos werden. Und Sophie hatte Kontakt zu einem Obdachlosen, der regelmäßig in ihrer Tiefgarage übernachtet und dem sie mit ihrer Familie hin und wieder etwas zu essen bringt. „Die Schüler möchten vormachen, wie Berührungsängste und Vorurteile abgebaut werden können gegenüber Menschen, denen wir regelmäßig in der City West begegnen“, erklärt Schulleiterin Christiane Kleß. Gelernt haben die Schülerbischöfe heute, dass es etwa 2000 bis 3000 wohnungslose Menschen in Berlin gibt. Aber nur rund 500 Schlafplätze, die in Obdachloseneinrichtungen oder anderen Unterkünften bereitstehen.

Yongyut erinnert an ein weiteres Problem, nämlich dass Obdachlose häufig Opfer von Gewalttaten werden. Iris Nowicki von der Bahnhofsmission nickt. „Es werden Schlafsäcke angezündet und Menschen verprügelt“, sagt sie. Es sei wichtig, dass gerade junge Menschen für ihre Nöte sensibilisiert werden. Für die vier Würdenträger auf Zeit war der heutige Tag nur ein Anfang ihrer Mission. Im kommenden Jahr möchten sie Politiker und weitere einflussreiche Persönlichkeiten anschreiben und mit ihnen Ideen erarbeiten, wie langfristig die Situation von Wohnungslosen verbessert werden kann. Damit nicht nur einmal im Jahr an Weihnachten an sie gedacht wird.

Schülerbischöfe: Die Tradition kommt aus dem Mittelalter

Seit 2010 gibt es in Berlin Schülerbischöfe, ein Projekt der Evangelischen Kirche. Kinder und Jugendliche setzten sich über den Projektzeitraum mit einem selbst gewählten Thema auseinander. In diesem Jahr kommen die Schülerbischöfe aus Charlottenburg-Wilmersdorf, von der Evangelischen Schule Charlottenburg, vorgeschlagen wurden die vier Schüler von Lehrern. Die Schule hat das Motto „Obdachlosigkeit in Berlin – Was heißt das? Wie ist das? Was können wir tun?“ gewählt. Bis zum Ende des Schuljahres 2015 möchten die Schülerbischöfe das Erlebte und Erforschte in die Öffentlichkeit tragen und ihre Mitschüler für das Thema sensibilisieren. Andere Themen in den vergangenen Jahren waren der Erhalt des Regenwaldes, der Umgang mit Lebensmitteln oder Bildungsarmut. Die Tradition der Schülerbischöfe kommt aus dem Mittelalter. An Kloster- und Stiftungsschulen wurde zu bestimmten Zeiten ein Schüler zum Bischof beziehungsweise zum Abt gewählt. Für einen Tag durfte er einen Teil der bischöflichen Amtspflichten übernehmen.

Zur Startseite