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Projekttag: Klassenausflug in die Vergangenheit

Reinickendorfer Hauptschüler verbrachten einen Projekttag im Geschichtslabor des Jugendmuseums in Schöneberg

Dieses Stück Geschichte ist ganz schön verrostet. Aber es kann trotzdem noch etwas erzählen. Claas starrt konzentriert durch die Lupe und sucht jeden Millimeter seines Forschungsobjekts ab: ein Bajonett. Tobi sitzt daneben und blickt genauso gebannt auf das alte Messer wie Claas. Die beiden Achtklässler tragen weiße Handschuhe und Kittel, ganz wie richtige Wissenschaftler.

„Kannst du erkennen, ob es im Zweiten Weltkrieg benutzt wurde? Und von wem?“, fragt Elke Allinger, Ethnologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Jugendmuseum Schöneberg. Sie trägt ebenfalls Kittel und Handschuhe. Claas und Tobi sind an diesem Morgen mit ihrer Klasse von der Johannes-LindhorstHauptschule in Reinickendorf in der Ausstellung „Geschichtslabor“. Das „Depot“ – dort sind die beiden gerade – ist ganz hinten im Museum. Hier, in Elke Allingers Reich, gibt es Geschichte zum Auswickeln und Anfassen: Die Ausstellungsstücke sind nicht hinter Glas, sondern in Seidenpapier, silbernen Boxen und Schränken verstaut.

Auch sonst ist in dieser Ausstellung alles etwas anders. Hier gibt es keine normalen Führungen, stattdessen sollen sich die Schüler die Geschichte selbst erarbeiten.

„Was macht man in einem Geschichtslabor?“, hat Elke Allingers Kollegin, die Pädagogin und Kunsthistorikerin Claudia Dreykluft, ganz am Anfang gefragt, als alle im Kreis zusammensaßen.

„Forschen und herausfinden, wie das damals war“, sagt ein Schüler. „Und wann ist in diesem Fall ,damals‘“? „1945“, ruft einer, „Hitler“ ein anderer. „Richtig, und wann fing das an?“ Ratlose Blicke, die Frage ist schon schwieriger. „1735 oder so?“, schätzt Steven unsicher. „Ein bisschen später“, sagt Claudia Dreykluft: „1933.“ Das Thema stehe zwar erst in eineinhalb Jahren auf dem Lehrplan, sagt Klassenlehrerin Elke Beier. „Aber so haben sie dann wenigstens schon mal etwas davon gehört.“ Eigentlich ist die Ausstellung für Fünft- und Sechstklässler konzipiert, aber die Hauptschüler sind nicht unterfordert.

Im Geschichtslabor sollen sie nicht nur etwas über Krieg und Nationalsozialismus lernen, sondern auch eigenständiges Recherchieren: Anhand von Texten, Bildern und Ausstellungstücken finden sie selbst etwas über Geschichte heraus.„Das Wichtigste, das euch dabei leiten wird, sind eure Fragen“, sagt Claudia Dreykluft am Anfang. Die Schüler sollen sich notieren, was ihnen „merkwürdig und fremd“ vorkommt. Sie bekommen ein kleines „persönliches Notizbuch“, ein Klemmbrett mit Stift und Arbeitsblatt: „Historische Ermittlungen, durchgeführt von ...“ steht oben auf der Seite. „Sucht euch etwas aus, das euch interessiert“, sagt Claudia Dreykluft und lässt die Schüler auf die Ausstellung los. Außer ihr und Elke Allinger gehen noch drei Mitarbeiter herum, beantworten Fragen und helfen bei der Recherche: „Das Konzept ist sehr personalintensiv“, sagt Dreykluft.

Yonus entdeckt schnell einen Sandeimer aus Metall und inspiziert ihn von allen Seiten: „Darf ich den anfassen?“ Claudia Dreykluft ist hinterhergeschlendert. Sie nickt, und Yonus greift in den Sand. Im Text auf dem kleinen Schild daneben entdeckt er ein Wort, das er noch nie gesehen hat: „Phosphorbomben“. Was das bedeutet, will er wissen: „Bomben, die ein Feuer verursachten, das man nur mit Sand ersticken konnte“, erklärt sie. „Findest du den Eimer hier noch mal im Raum?“ Yonus sieht sich um und zeigt dann auf eins der vielen Comicbilder an der Wand: „Ein Mädchen macht sich auf den Weg in den Luftschutzkeller. In allen Wohnungen musste ein Eimer mit Sand stehen“, steht darunter. „Das hat aber nicht immer so viel geschützt, oder?“, fragt Yonus. „Manchmal nicht“, stimmt Claudia Dreykluft zu. Yonus hat das Prinzip der Ausstellung schnell begriffen: Zu jedem der Ausstellungsstücke gehört ein Comicbild mit einem kurzen Text und eine kleine Klapptafel mit einem etwas längeren. Durch Nummer und Farben ist der Zusammenhang markiert.

Carsten malt gerade sorgfältig etwas in sein Notizbuch: vier Stiefel, angeordnet in der Form eines Hakenkreuzes. Er hat sie in einem Comic entdeckt. „Was bedeuten die Stiefel?“, schreibt er. Dass sie etwas mit dem Thema Widerstand zu tun haben, hat er herausgefunden. „Durften die SA-Leute schlagen und Leute festnehmen?“, will er von Claudia Dreykluft wissen. „Das ist eine schwierige Frage“, sagt sie. „Du kannst ja mal versuchen herauszufinden, wer die SA-Leute eigentlich waren.“ Carsten verschwindet in Richtung Vorraum. Dort gibt es jede Menge Hilfsmittel zur Recherche: Karteikarten, Lexika und Rollwagen voller in Plastik eingeschweißter Bögen, auf denen Zusatzinformationen zu den Themen zu finden sind.

Dort kopiert Yonus gerade ein Foto von Pimpfen und Hitlerjungen, die schießen lernen. Dann schneidet er das Bild aus und klebt es auf sein Arbeitsblatt. Seine Mitschülerin Charly sitzt daneben und stöbert im Rollwagen: „Oha“, sagt sie und liest Yonus dann vor: „Ein Kilo Schwarzbrot: 70 Mark.“ Unter der Überschrift „Hunger“ hat sie eine Liste mit Lebensmittelpreisen aus dem Krieg gefunden. Bei dem Versuch, etwas über Handgranaten herauszufinden, ist sie bei dem Ordner „Bomben über Berlin“ gelandet. Charly hat schon zwei Din-A-4-Seiten vollgeschrieben und mit Kopien und Fotos beklebt. Sie hat sogar selbst eine Handgranate fotografiert. Jetzt heftet sie die beiden Blätter aneinander. Sie möge Geschichte auch als normales Unterrichtsfach, sagt die 14-Jährige. Aber „hier ist es noch interessanter, weil man sich alles besser vorstellen kann und die Sachen außerdem selbst rausfindet“.

Dabei hatte Claudia Dreykluft anfangs skeptisch gesagt: „Bei Kindern mit so einem Bildungshintergrund ist es schwieriger, Interesse zu wecken.“ Außerdem ist in diesem Alter jede Art von Museum „uncool“. Leicht ist es mit der Gruppe sicher nicht: Vanni mit den großen Ohrringen findet einfach alles „voll langweilig“ und will „nach Hause zum Chatten“. Aber sie ist die Einzige, die überhaupt nicht zu begeistern ist. Selbst ihre Freundin Vivi, am Anfang ebenfalls lustlos, findet etwas über Partisanen heraus: „Das sind Leute mit so Waffen. Das habe ich in dem kleinen Buch gelesen.“ Man kann sich vorstellen, dass sie sonst nicht oft in ein Lexikon schaut. Das Fach Geschichte mag sie sonst nicht. „Aber hier ist das alles nicht so eingeengt und eigentlich ganz interessant, wie die früher so gelebt haben.“

Zum Schluss müssen alle der ganzen Klasse ihre Ergebnisse präsentieren. Da hat Claas auf einmal Angst, nicht cool genug zu wirken, und lässt sich jedes Wort aus der Nase ziehen. Carsten jedoch kennt keine Scheu. Den Stift hinters Ohr geklemmt, hängt er seine vielen Notizen an einer Tafel auf und erklärt die Bedeutung des Stiefelsymbols: „Das war ein Graffiti der Widerständischen.“

Jugendmuseum Schöneberg, Hauptstr. 40/42, Tel. 75606163, www.jugendmuseum.de

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