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Musiker aus zwei Welten. Madagassen und Berliner spielten gemeinsam auf Trompeten aus Gartenschläuchen.

© Maja Burggaller

Schüleraustausch: Sie spielten vor Madagaskar

Eine Schüler-Big-Band aus Dahlem reiste in den Inselstaat. Sie unterstützt dort ein Jugendbildungsprojekt.

Zurück in Berlin wirkt das eigene Zimmer viel größer, sagt Schlagzeuger Niklas. Bei Justine, die Bassposaune spielt, und Jana, Tenor-Saxofon, geht das Duschen jetzt schneller. Und Sängerin Charlotte sind der Döner-Laden und die alte Schulaula aufgefallen. „Wie intensiv alles riecht, wenn man wieder was in der Nase hat, das man schon kennt“, meint die 18-Jährige. Die „United Big Band“, die Oberstufenband für Jazz-Interessierte aus vier verschiedenen Berliner Schulen und angesiedelt am Arndt-Gymnasium Dahlem, ist gerade zurück von ihrer zweiwöchigen Reise nach Madagaskar.

Die Band unterstützt dort das Jugendbildungsprojekt „Antseranantsoa“ des Vereins „Ny Hary“, das ein ehemaliger Bandleiter im Jahr 2004 mit seiner madagassischen Ehefrau in dem Inselstaat initiiert hat. Madagassische Kinder und Jugendliche leben oft weit von ihren Familien entfernt, um eine Schule besuchen zu können. „Ny Hary“ bringt rund 90 von ihnen in einem Wohnheim unter und versorgt 210 Schüler täglich mit Mahlzeiten.

Seit der Gründung von „Ny Hary“ engagiert sich die „United Big Band“ für das Projekt. In den vergangenen Jahren spendete sie ihm die Getränkeeinnahmen aller Konzerte und mehrere Benefizkonzerte. Manche Bandmitglieder und ihre Eltern zahlen einem madagassischen Schüler ein monatliches Mini-Stipendium.

„Den Blick der Jugendlichen über den Tellerrand zu schärfen“, das war Band-Leiter Martin Burggaller wichtig. Er unterrichtet Musik und Geschichte am Arndt-Gymnasium und hat den Anstoß zur Reise gegeben. Außerdem war er neugierig, wie ein madagassisches Publikum auf das Programm der Big Band reagieren würde. Sie seien die erste Big Band, die in Madagaskar gespielt habe, meint Burggaller. Für ihre 24 Mitglieder, alle zwischen 14 und 19 Jahren, war es jedenfalls die erste gemeinsame Konzertreise außerhalb Deutschlands.

Mit über 60 Koffern war die Truppe unterwegs. Darin die eigenen Instrumente, zusätzlich elf Akkordeons als Geschenk sowie Kinderwäsche, Sonnenbrillen, symbolisch zwei kleine Milchkühe aus Plastik für die Landwirtschaft des Projekts und jede Menge Gartenschläuche zum Musizieren. Auf Madagaskar haben die Berliner Schüler zum ersten Mal gesehen, dass die Sonne auch in die andere Richtung aufsteigen und die Mondsichel wie ein U liegen kann. Sie waren begeistert von den Reisfelder-Terrassen, dem Tropenwald und der roten Erde. Und sie sahen, wie sehr sich die Lebens- und Lernverhältnisse gleichaltriger Schüler auf der Insel von ihren eigenen unterscheiden. Für eine 17-jährige Madagassin aus dem Wohnheim bestehe der ganze Tag aus Schule, erzählt Charlotte, danach die Hausarbeit im Heim. Manchmal stünde sie um vier Uhr auf, um ihre Aufgaben zu machen. Jana erzählt von der 13-jährigen Manjatiana, die mit ihrem Bruder zur Schülerspeisung kommt. Zu Hause seien sie zehn Kinder, gemeinsam mit Eltern und Großmutter in einem Zimmer. Schulbesuch und tägliches Essen seien keine Selbstverständlichkeit. Das alles in Erfahrung zu bringen, war nicht leicht. Der sprachliche Austausch voller Hindernisse: Nur wenige aus der deutschen Band konnten etwas Französisch, ebenso wenige aus dem Schülerwohnheim Englisch. „Ich wusste anfangs nicht, was ich fragen soll“, erzählt Charlotte. „Sie leben so unterschiedlich, da hätte man eigentlich alles fragen können. Wir haben mit der Musik angefangen.“

In der ersten Woche der Reise spielte die „United Big Band“ Konzerte in Antananarivo oder kurz Tana, wie die Hauptstadt auch genannt wird. Sie spielten an verschiedenen Schulen und beim deutschen Botschafter, hatten einmal das reservierteste und einmal das begeistertste Publikum ihrer Konzertgeschichte.

Mit im Reisebus dabei waren zwölf Madagassen aus dem Schülerwohnheim, die ihr Land größtenteils selbst noch nicht bereist hatten. In der zweiten Woche besuchte die Band dann schließlich die Wohn- und Lernräume sowie das landwirtschaftliche Gelände des Vereins „Ny Hary“ in Miarinarivo, rund 90 Kilometer westlich der Hauptstadt.

Dort begannen die gemeinsamen Aktivitäten der Schüler. Es wurde vorgespielt und getanzt, gemeinsam gesungen und mit Küchengeräten Samba improvisiert. An einem Tag konnte die Band, unterstützt von zusätzlichen 60 Gartenschlauch-Bläsern, das Lied der Band Santana „Oye Como Va“ zum Besten geben. Auch bei der Musik gab es unterschiedliche Erfahrungen, erzählen die Band-Mitglieder. Die United Big Band arbeitet mit Einstimmen, Notensystem und Hörbeispielen. Die madagassischen Schüler, denen sie begegnet sind, haben an der Schule keinen Musikunterricht. Auch die madagassischen Percussion-Künstler, bei denen die Band einen Workshop hatte, waren größtenteils Autodidakten.

Die United Big Band zeigte also ihre Art zu musizieren. Mitgenommen haben die Berliner „Véloma“, ein madagassisches Abschiedslied, das sie zum Ende ihres zweieinhalbstündigen Abschiedskonzerts mit rund 300 Kindern sangen. „Klar hatte ich ein schlechtes Gewissen“, sagt Charlotte über die eigene Rückkehr in den Berliner Wohlstand. „Aber dann hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich ein schlechtes Gewissen habe. Das Letzte, was die madagassischen Schüler brauchen, ist Mitleid.“

So beginnt für die Berliner Schüler zu Hause wieder der Ferienalltag. Jana überlegt, ob sie nach der Schule ein einjähriges Volontariat bei dem madagassischen Projekt machen soll. Big-Band-Leiter Burggaller, wie er die Konzertreise in zwei Jahren wiederholen kann. Eine der jungen Musikerinnen feierte gleich nach der Rückkehr ihren 18. Geburtstag. Als Ständchen hat sie sich das madagassische „Véloma“ gewünscht.

Mehr Informationen über das Jugendbildungsprojekt Antseranantsoa von Ny Hary und zur United Big Band unter: www.ny-hary.org und unter www.musik-am-agd.de.

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