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Schule: Selber denken macht schlau

Mathematik ist für viele Schüler das blanke Horrorfach. Neue Lehrmethoden sollen den Schülern den Spaß an Zahlen und Gleichungen vermitteln. Denn Mathe ist überall.

Es ist eine entspannte Stunde für Mathelehrer Jörn Lemke, einen jugendlich wirkenden Berliner mit Sweatshirt und breitem Grinsen. Schließlich bringen seine Schüler sich den Stoff gerade gegenseitig bei. Freitag, siebte Stunde an der Wilma-Rudolph-Oberschule, einer Zehlendorfer Gesamtschule. Der ganze Kurs ist auf den Beinen, in Gruppen stehen die Schüler vor bunt beschriebenen DIN-A1- Plakaten, die an der Tafel, am Klassenschrank, an der Fensterscheibe hängen. „Wenn du die beiden Werte in die Faktorformel einsetzt, kommt wieder die Funktionsgleichung raus“, hört man einen Schüler erklären. An einer anderen Station rechnet ein anderer vor: „Also, x hoch zwei gleich vier. Da kann x entweder zwei oder minus zwei sein.“

Am Anfang der Stunde hatten die Neuntklässler Gruppen gebildet. Jeder Gruppe hatte Lemke einen bunten Fächer laminierter Karten hingehalten: „Sucht euch eine aus!“ Auf jeder Karte steht eine Aufgabe, die sich dem Thema „Quadratische Gleichungen“ aus einer anderen Richtung nähert. Mal müssen die Rechenschritte in die richtige Reihenfolge gebracht, mal der Lösungsweg umgekehrt, mal die Aufgabe variiert werden. Die Gruppen reden und rechnen, Lösungen und Lösungswege schreiben sie auf ihre A1-Bogen. Anschließend mischen sich die Gruppen so, dass in jeder neuen Gruppe ein Schüler den anderen die Aufgabe präsentieren kann, an der er mitgearbeitet hat. So wird das Thema umfassend betrachtet. „Expertenrunde“ heißt diese Methode. Ihr Vorteil liegt auf der Hand: „Jeder muss den anderen erklären können, wie er gerechnet hat“, sagt eine Schülerin. „Und dadurch, dass man es erklärt, versteht man es besser.“

Genau das ist der Sinn der Sache. Ein grundsätzliches Problem des Matheunterrichts an deutschen Schulen ist nämlich, dass die Schüler viel zu wenig wirklich begreifen von dem, was sie da rechnen. Herausgefunden hat das die „Third International Mathematics and Science Study“ (TIMSS). TIMSS zeigte 1997, dass deutsche Schüler zwar bei Routineaufgaben einen eingeübten Lösungsweg reproduzieren konnten, wenn es aber darum ging, Mathematik zur Lösung eines praktischen Problems einzusetzen, schnitten sie mies ab. Diese Schwäche, so fanden die Forscher heraus, ließ sich direkt auf einen Matheunterricht zurückführen, in dem der Lehrer einen Lösungsweg vorgibt. Was sie nicht lernten, war das Gelernte als Werkzeug zu begreifen und kreativ mit ihm umzugehen.

Als direkte Reaktion auf TIMSS hob die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung bereits 1998 Sinus aus der Taufe, ein Programm zur „Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts“. Jörn Lemke hat das Programm zusammen mit seinen Kolleginnen Doris Cremer und Heike Orth 2004 an die Wilma-Rudolph-Oberschule gebracht. 2005 hat das Trio die Koordination für den gesamten Südberliner Organisationsbereich übernommen.

Mathe in der Praxis: Was der Katze beim Tierarzt hilft

Mit Sinus haben sich Lemke, Cremer und Orth eine neue Aufgabenkultur in ihren Unterricht geholt. Mehr Gruppenarbeit, mehr Spiele, mehr Lebensbezug. Nicht der Lehrer, sondern die Schüler stehen im Mittelpunkt. Sie sollen eigene Fragen stellen und sich so die mathematischen Modelle selbst erarbeiten, anstatt sie stur einzupauken. So lässt Heike Orth, die neben Mathematik auch Arbeitslehre unterrichtet, ihre Schüler während eines Betriebspraktikums die „Mathebrille“ aufsetzen und Aufgaben aus der Praxis formulieren. Eine herzkranke Katze, schreibt etwa die 15-jährige Jana, bekommt von der Tierärztin ein Entwässerungsmittel. „Die Katze wiegt 4 kg und soll 3 Tage lang 1 mg pro Kilo 2mal täglich bekommen. Danach soll die Dosis auf 2mal täglich 0,5 mg pro Kilo über 4 Tage reduziert werden. Wie viele mg Entwässerungsmittel erhält die Katze?“

Lehrer Lemke nimmt einen alten Fußball mit in die Geometriestunde, die Schüler stellen sich gegenseitig Aufgaben zu seiner Form. Volumen, Kantenlänge der Fünf- und Sechsecke, Gewicht, vielleicht werden nebenbei auch noch die letzten Bundesligaergebnisse besprochen, aber das zeigt ja nur: Mathe ist überall. Und bei der Arbeit mit solchen „offenen Aufgaben“ zählt ohnehin nicht das eine richtige Ergebnis, sondern die bewusste Beschäftigung mit dem Weg dorthin. „Prozessorientierter Unterricht“ ist der Fachbegriff.

Der Trick an Sinus ist, dass es als Graswurzelbewegung funktioniert. Die Sinus-Zentralstelle bietet wissenschaftliche und didaktische Beratung, Materialien und Fortbildungen an. Es liegt aber bei den Lehrern, aktiv zu werden, für ihre Schulen eigene Schwerpunkte zu setzen und ihren Unterricht zu reformieren. In kleinen Schritten, aber kontinuierlich. Im kleinen Mathe-Büro der „Wilma“ gibt es mittlerweile einen großen Schrank mit Sinus-Materialien. Womit einerseits beeindruckende Mengen an buntem Karton, Holzwürfeln und anderem Bastelkram gemeint sind, die bei den Lehrern einiges an Kreativität freisetzen, wenn es darum geht, neue Aufgaben zu entwickeln. Damit sind aber auch die beiden dick angeschwollenen Aktenordner gemeint, die als „Portfolio“ eine Übersicht über die entwickelten Methoden und Materialien enthalten. Für den 7. und 8. Jahrgang haben Lemke, Cremer und Orth zudem eine CD-ROM mit Unterrichtsideen und Aufgaben erarbeitet, den „Berliner Materialienpool“. Es ist ein Grundgedanke von Sinus, das Entwickelte mit Kollegen auszutauschen und so sowohl innerhalb der Schule als auch schulübergreifend ein Netzwerk aufzubauen, das sich wechselseitig stärkt.

Sinus verbessert die Prüfungsergebnisse

Klar, am Anfang sei das anstrengend gewesen, sagt Heike Orth. Man muss sich auf die ungewohnte Teamarbeit erst einmal einstellen. Und der Rollenwechsel, im Unterricht die Schüler in den Mittelpunkt zu rücken und sich selbst als Lehrer zurückzunehmen, ist durchaus eine Herausforderung. Aber es ist eine, die sich lohnt. „Es macht einfach Spaß“, sagt Orth, sagt Cremer, sagt Lemke. Man merkt es ihnen an. Ihren Schülern übrigens auch. Und die Ergebnisse stimmen: Für die Prüfungen zum Mittleren Schulabschluss nach der zehnten Klasse ist das Wilma-Team zuversichtlich. Eine nur leicht abgespeckte Probeklausur fand bereits ihr neunter Jahrgang „durchaus machbar“. Auch bundesweit zeigt die Evaluation von Sinus eine deutliche Verbesserung der Prüfungsergebnisse, vor allem an Haupt- und Gesamtschulen.

Bis 2006 waren bundesweit rund 1700 Schulen am Sinus-Programm beteiligt. Bei rund 35 000 Schulen in Deutschland ist das natürlich ein geringer Anteil, auch wenn die Zahl mit jeder neuen Programmwelle deutlich gestiegen ist. Ab dem Schuljahr 2007/2008 geht Sinus nach neun Jahren Bundesförderung in die Hände der Länder über. Nicht alle machen weiter, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen etwa steigen aus dem Programm aus.

Christian Ostermeier, Koordinator der wissenschaftlichen Begleitung von Sinus, ist dennoch „optimistisch“, auch wenn der Verlust der zentralen Betreuung für die Schulen sicher ein Verlust sei. „Man kann nur auf die Erfolge und die wissenschaftliche Einschätzung hinweisen“, so Ostermeier. „Aber dann ist die Politik am Zug. Manche Länder machen weiter. Da kann ich nur sagen: Die haben recht.“ Zumindest bestehe das durch Sinus aufgebaute „Kompetenznetzwerk“ fort. Zudem gibt es neben Sinus auch noch andere Initiativen (siehe Kasten) – auch wenn Sinus die bisher größte und erfolgreichste ist.

Egal, welches Label drüberstehe, meint Ostermeier, „die Länder sind in Zugzwang“. Der Matheunterricht müsse einfach weiter verbessert werden. In Berlin läuft Sinus zunächst bis 2009. 70 Schulen waren bisher dabei, für die nächste Stufe sind über 100 angemeldet. Das sind laut Landeskoordinatorin Elke Schomaker rund 40 Prozent aller weiterführenden Schulen. Und es ist Platz für mehr.

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