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Die Früheinschulung ist umstritten.

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Umstrittene Früheinschulung: Viele Eltern klagen über Willkür

Das Gesetz erlaubt Eltern, ihre Kinder von der Schulpflicht zurückstellen zu lassen. In der Praxis erweist sich diese angeblich "flexible" Regelung aber als Problem - jedenfalls in einigen Bezirken.

Im vergangenen Herbst war für Inka Friedrich die Sache klar: „Mein Sohn ist nicht für die Einschulung mit fünf geeignet.“ Zu verspielt. Nicht belastbar. Sie hatte gehört, dass Kinder von der Schulpflicht zurückgestellt werden können. Sie hatte gelesen, dass die Bildungsverwaltung von einer „flexiblen Einschulungsregel“ spricht. Ein halbes Jahr später hat die Mutter zweier Söhne die Erfahrung gemacht, dass „Flexibilität“ ein weiter Begriff ist – und auch das Gegenteil bedeuten kann. Je nachdem, in welchem Bezirk man wohnt.

Inka Friedrich wohnt in Mitte. Hier ist Schulrat Wolfgang Köpnick zuständig für die Einhaltung der Gesetze. Für Köpnick ist die Gesetzeslage „glasklar“.

Aber was sagt das Gesetz? Im entscheidenden Paragrafen 42,3 ist geregelt, unter welchen Bedingungen Kinder für ein Jahr von der Schulpflicht zurückgestellt werden können. Da allerdings beginnt bereits das Problem, denn die Regelung lässt viel Interpretationsspielraum. Sie lautet, dass eine Rückstellung nur dann erfolgen soll, „wenn der Entwicklungsstand des Kindes eine bessere Förderung in einer Einrichtung der Jugendhilfe erwarten lässt“. Weiter heißt es, dass über den Antrag der Erziehungsberechtigten und eine Stellungnahme der zuletzt besuchten Kita „die Schulaufsichtsbehörde entscheidet“ und zwar „auf der Grundlage gutachterlicher Stellungnahmen des zuständigen Schularztes oder des schulpsychologischen Dienstes“.

Was sich hinter diesen Worten verbirgt, entpuppt sich mitunter als Programm für eine elterliche Odyssee mit dem steten Gefühl des „Ausgeliefertseins“, wie es Inka Friedrich beschreibt.

„Wir haben einen ausführlichen Antrag geschrieben, in dem wir begründeten, warum wir unseren Sohn für nicht schulreif hielten. Sowohl die Kita als auch unser Kinderarzt bestätigten in ihren Gutachten, dass die die Rückstellung gutheißen“. Aber das alles – all die jahrelangen Erfahrungen der drei beteiligten Instanzen – war im Nu gegenstandslos, nachdem am 17. Januar der Schularzt sein Votum abgegeben hatte: „Nach circa 15 Minuten entschied der Schularzt, dass unser Kind schulreif sei“, erinnert sich Inka Friedrich, die als Schauspielerin aus Filmen wie „Sommer vorm Balkon“ bekannt ist.

Sie hatte gedacht, dass es die Aufgabe des Schulrates sei, die verschiedenen Meinungen zu gewichten und eine eigene Meinung zu bilden. Der zuständige Schulrat Köpnick aber sagt, dass er überhaupt keinen Spielraum habe. Vielmehr müsse er für die Schulpflicht plädieren, sofern der Schularzt nicht abrate. Wie gesagt: „Glasklar“ sei das Prozedere. Wer damit nicht zufrieden sei, müsse sich eben an den schulpsychologischen Dienst des Bezirks wenden.

Was Inka Friedrich auch tat. Auf der Beratungsstelle erfuhr sie am 14. Februar, dass sie in zwei Wochen einen Termin zur „Diagnostik“ erhalte. Inzwischen sieht es so aus, als wenn die Schulpsychologin in ihrem Sinne entschieden hätte. Was bedeuten würde: Der Schulrat könnte dem Antrag auf Rückstellung stattgeben.

Manche Eltern haben das Gefühl, dass die Kita ihr Kind loswerden will.

Inka Friedrich gehört zu den Müttern, die monatelang für eine Rückstellung ihres Kindes gekämpft haben. Bekannt ist sie allerdings eher als Schauspielerin - hier bei einem Dreh im Jahr 2011 für "Tatort".
Inka Friedrich gehört zu den Müttern, die monatelang für eine Rückstellung ihres Kindes gekämpft haben. Bekannt ist sie allerdings eher als Schauspielerin - hier bei einem Dreh im Jahr 2011 für "Tatort".

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Inka Friedrichs monatelanges Bangen ist kein Einzelfall. Über 2600 Eltern haben im vergangenen Jahr eine Rückstellung durchgesetzt – jedes zehnte Kind wurde also später eingeschult, als vom Gesetzgeber gewollt. Nicht selten erfahren die Eltern, dass es die vom Senat gepriesene „Flexibilität“ gar nicht gibt.

„Unser Schularzt riet mir, nach Brandenburg umzuziehen, wenn ich mein Kind nicht einschulen will“, erinnert sich beispielsweise Dessislawa Norewa. Für die aus Bulgarien stammende Dolmetscherin war diese Ansage ein Albtraum. „Meine Tochter war verspielt, verträumt und sehr klein“, beschreibt sie die Lage vor einem Jahr. Dafür findet sie starke Worte: Für sie sei klar gewesen, dass das Mädchen „nur über meine Leiche eingeschult wird“. Was dann folgte, beschreibt die Mutter als kräftezehrenden – wenn auch letztlich erfolgreichen – Kampf.

Was den Eltern zusetzt, ist das Zerriebenwerden zwischen den vielen beteiligten Akteuren. Das fängt mitunter schon bei der Kita an. Hier ist die Lage verworren. Einerseits müssen Eltern ein Gutachten der Erzieherinnen beibringen. So will es das Gesetz. Andererseits können die Schulräte dieses Gutachten links liegen lassen. Denn im Gesetz steht nicht, dass die Kita-Meinung irgendeine Relevanz hat. Das allerdings können sie Eltern nicht wissen. Sie wissen nur, dass sie das Gutachten einholen müssen.

Dies bedeutet für viele Eltern ein weiteres Problem. „Unsere Kita wollte uns loswerden, weil sie für die kleineren Kinder mehr Personal zugewiesen bekommt als für die Vorschulkinder“, lautet eine der Erfahrungen, die Eltern machen. Das könne zu einem regelrechten „Mobbing“ führen. „Uns wurde nahegelegt, die Kita zu wechseln“, berichtet eine Mutter, die ihr Kind zurückstellen lassen wollte. Andere Eltern haben das Gefühl, dass die Kitas sie auch deshalb loswerden wollen, weil es lange Wartelisten gibt: Der neue Rechtsanspruch für die Einjährigen, der ab August 2013 gilt, setzt die Träger unter Druck.

Erschwerend kommt für die Eltern hinzu, dass ihre Kitaplätze nur bis zum 30. April freigehalten werden. Darauf haben sich die öffentlichen und freien Kitaträger geeinigt. Das bedeutet, dass die Eltern rasch Klarheit brauchen. Die aber ist nicht so schnell zu bekommen, weil die Schulärzte es nicht schaffen, alle Kinder rechtzeitig zu begutachten. Anschließend müssen noch der Schulrat und unter Umständen der schulpsychologische Dienst zum Zuge kommen.

"Die Fünfjährigen werden verbrannt", bedauert ein Schulpsychologe.

Betroffene Eltern beschreiben die Situation als „kaum erträglich“, zumal ihre Zweifel am Sinn der Früheinschulung wachsen. Zum einen ist den Eltern klar, dass nur Berlin die Fünfeinhalbjährigen einschult. Zum anderen wissen sie, dass das Nachbarland Brandenburg infolge der Erfahrungen mit der Früheinschulung gerade erwägt, das Einschulungsalter wieder heraufzusetzen. Außerdem erleben viele Eltern anhand ihrer älteren Kinder, welche negativen Folgen die Früheinschulung haben kann. Und sie hören von Lehrern, dass diese ihre Bedenken durchaus teilen.

„Die Lehrer klagen, dass sie wegen der vielen Fünfjährigen nicht mehr genug Zeit für die älteren Kinder in der Klasse haben“, berichtet Inka Friedrich aus der Schule ihres älteren Sohnes. Andere Lehrer leiden darunter, dass sie die Kleinen vernachlässigen müssten, weil sie die älteren Kinder sonst nicht richtig auf die Versetzung in die dritte Klasse vorbereiten könnten. Im vergangenen Jahr mussten 3800 Kinder die zweite Klasse wiederholen.

„Die Fünfjährigen werden verbrannt“, bedauert ein Schulpsychologe, der nicht namentlich genannt werden möchte, weil sein Statement der Linie seines Arbeitgebers, der Senatsverwaltung für Bildung, widerspricht. Für die Verunsicherung der Eltern hat er Verständnis: In jedem Bezirk laufe das Verfahren anders ab: Mal beharre der Amtsarzt als Vorgesetzter der Schulärzte darauf, dass sie möglichst allen Kindern die Schulreife attestiere, mal übernähmen die Schulärzte die Rolle des eher verständnisvollen Schulpsychologen. „Da herrscht Bezirkslandrecht“, fasst der Schulpsychologe die Lage zusammen.

Unklar ist bislang, wie hoch die Gesamtzahl der Rückstellungsanträge in diesem Jahr sein wird. In manchen Bezirken ist noch keine Aussage möglich, andere Bezirke wie Pankow vermuten, dass die Zahl weiter steigen wird. Auch aus Tempelhof-Schöneberg heißt es: „Die Anträge nehmen zu“. Anfang März waren es schon über 300, während es 2012 nur 280 gewesen seien, berichtet Schulrat Jörg Grötzner. Michael Witte, pädagogischer Leiter des Kita-Eigenbetriebs Nordost, hat Verständnis für die Eltern. Es sei eben „nur eine Kindheit da“, der Leistungsanspruch komme früh genug, gibt er den Eltern recht, die sich vor der Überforderung ihrer Kinder fürchten.

Anderer Ansicht ist Ilkin Özisik, der bildungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion. Er hat eher die Erfahrung gemacht, dass die Kinder in der Kita unterfordert werden. Deshalb gehört er auch zu den wenigen Abgeordneten, die noch ohne Wenn und Aber an der Linie der Bildungsverwaltung festhalten.

Aus der Wissenschaft kommen widersprüchliche Signale.

Die Wissenschaft streitet unterdessen weiter. Während der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth jüngst im Tagesspiegel vor den Risiken der Früheinschulung warnte, rät seine Bremer Professoren-Kollegin, die Grundschulforscherin Ursula Carle, davon ab, in dieser Sache die Hirnforschung zu befragen. Carle selbst kommt allerdings zu keiner klaren Empfehlung. Auf die Frage, welches denn nun das richtige Einschulungsalter sei, schrieb sie in einem Gutachten für die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen, es komme weniger auf das Alter des Kindes an als auf die „Passung eines Unterrichts“, eine „gute Ordnung“ und auf eine „Pädagogik der Vielfalt“.

Ziemlich eindeutig wird Carle allerdings bei der Frage, ob man auf Rückstellungen verzichten und alle Kinder eines Jahrgangs einschulen sollte. Diese Frage könne man nur dann bejahen, wenn die Lehrer in der Lage wären in heterogenen Gruppen zu unterrichten. Man brauche „mindestens acht bis zehn Jahre unter intensiver Fortbildung und Begleitung“, bis alle Schulen eine funktionsfähige Schuleingangsphase besäßen. Ohne eine flexible und jahrgangsgemischte Schuleingangsphase würde sie davon abraten, auf Rückstellungen  zu verzichten. Außerdem müsse das Personal aus dem Kindergarten in die Schule mitgehen und sollte nicht eingespart werden, formuliert Carle als weitere Bedingung.

Was Carle vor fünf Jahren bei der Abfassung des Gutachtens nichts wissen konnte: Berlin hat die jahrgangsgemischte Schuleingangsphase unter dem Druck der Betroffenen als Norm aufgegeben – jede dritte Schule unterrichtet bereits wieder klassenbezogen. Das aber bedeutet, dass auch Berlin überhaupt nicht mehr die Voraussetzungen erfüllt, die Carle für die flächendeckende frühe Einschulung formuliert.    

Die Eltern haben sich aus dieser akademischen Diskussion allerdings längst zurückgezogen. Sie haben genug damit zu tun, für ihre eigenen Kinder die beste Lösung durchzukämpfen. Und das ist schon schwer genug.              

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