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Schule: Verkürzte Schulzeit: Auslandsjahr soll halbiert werden Berlins Gymnasiasten bleibt zwischen MSA

und Turboabitur wenig Zeit für Fernweh

Italien? USA? Oder doch lieber Kanada? Sicher wusste Yasar Ohle nur eins: Er wollte ein Jahr im Ausland zur Schule gehen. Als Länderpräferenz gab der damals 16-jährige Berliner auch Argentinien, Costa Rica und Indien an, sowie die Türkei, das Herkunftsland seines Vaters, dessen Sprache er nicht sprach, in dem er mit seiner Familie aber schon oft im Urlaub war. Seine Austauschorganisation AFS (American Field Service) schickte ihn schließlich nach Adana, eine Stadt im Südosten der Türkei, in die es Touristen nur selten verschlägt.

„Ich kam zu einer unbekannten Gastfamilie in einen mir unbekannten Teil des Landes“, sagt Yasar, der erst vor wenigen Wochen zurückkehrte. Seine Familie war für ein Jahr eine alleinerziehende Mutter mit zwei Töchtern, „ein reiner Frauenhaushalt, unautoritär und ganz schön lustig“. Zwar beschreibt der Charlottenburger Adana als „grau, staubig, heiß und langweilig“, trotzdem schwärmt er von der Zeit. Der reflektierte Gymnasiast spricht von „unbegrenzten Möglichkeiten der Selbstentfaltung“. Er habe in wenigen Wochen Türkisch, Englisch und auch sonst viel gelernt.

Die Türkei ist seit vielen Jahren ein Zielland der großen gemeinnützigen Austauschorganisationen wie AFS, YFU und Rotary Jugenddienst. Seit 2009 gibt es sogar ein bundesweites Stipendium von Mercator. Doch im Gegensatz zu den Spitzenreitern auf der Austauschliste wie USA, Kanada und England zählt sie eher zu den exotischen Destinationen, in die es nur einzelne Schüler zieht.

Doch ob exotisch oder nicht – ein Schuljahr in der Fremde wird immer beliebter. Über 16 000 deutsche Schüler sind laut einer Umfrage des Berliner Recherchen-Verlags derzeit im Ausland. „Die Teilnehmerzahlen steigen stetig“, sagt Christoph Stolzenberg, AFS-Sprecher. Allerdings müssen Organisationen wie seine derzeit in Berlin besonders stark werben, weil die entsprechende Altersgruppe dieses Jahr erstmals von der verkürzten Schulzeit betroffen ist. Bislang gingen Schüler wie Yasar Ohle in der 11. Klasse ins Ausland und konnten danach in der 12. Klasse wieder in ihren alten Klassenverband einsteigen. Das Schuljahr im Ausland wurde ihnen oftmals problemlos anerkannt, weil es lediglich die Orientierungsphase für die gymnasiale Oberstufe – bisher: Klasse 11 – ersetzte. Diese lange Orientierungsphase ist aber durch die Schulzeitverkürzung entfallen.

Die Vorverlegung des Auslandsjahres in die 10. Klasse ist ebenfalls nicht vollständig möglich, weil hier der Mittlere Schulabschluss (MSA) abgelegt werden muss. Eine Lösung könnte darin bestehen, dass das Jahr im Ausland zwischen Klasse 10 und 11 eingeschoben wird. Nachteil: Die Schüler verpassen den Anschluss an ihren alten Klassenverband.

„Wir halten Auslandserfahrungen für wichtig und wollen das fördern“, sagt Jens Stiller, Sprecher der Bildungsverwaltung. Der Kompromissvorschlag des Senats lautet: Sechs Monate im Ausland statt zwölf. „Wir sind dabei, die Bedingungen zu modifizieren“, sagt Stiller. Demnach soll in Zukunft ein Auslandsaufenthalt in der 10. Klasse bis zu einem halben Jahr anerkannt werden, wenn die Schüler rechtzeitig zu den MSA-Prüfungen wieder in Berlin antreten. Der Senat will zudem ermöglichen, dass auch das erste Kurshalbjahr im Ausland in der 11. Klasse anerkannt wird.

Klaus Krimmel vom „Arbeitskreis gemeinnützige Jugendaustauschorganisationen“ (AJA) hält das für „höchst prekär“. Anders als in Berlin könnten Schüler in den meisten anderen Bundesländern das ganze Auslandschuljahr anerkannt bekommen – „trotz Schulzeitverkürzung“. Bislang sei in anderen Ländern mit Abitur in acht Jahren kein negativer Trend bei den Bewerberzahlen auszumachen. In Berlin jedoch schon: In wenigen Wochen laufen hier die Bewerbungsfristen ab, „und bislang zeichnet sich ein deutlicher Rückgang ab“, so Krimmel. Bei AFS können sich Schüler noch bis zum 15. Oktober bewerben. „Bis jetzt hat sich gut ein Dutzend Berliner gemeldet“, sagt Sprecher Stolzenberg.

Um auf die neuen Bildungsvorgaben in der Hauptstadt zu reagieren, bieten die Organisationen neuerdings auch ein halbes Jahr im Ausland an. Auch Yasar Ohle hatte darüber nachgedacht, nur ein halbes Jahr in die Türkei zu gehen. Doch er ist froh, dass er ein ganzes Schuljahr geblieben ist. „Es hat ein paar Monate gedauert, bis ich richtig eingelebt war und es genießen konnte“, sagt er. Mit den anderen AFS-Schülern in der Türkei sei er viel gereist und habe das Land kennengelernt. Für seine Nachfolger aus Berlin empfiehlt Yasar: „Lieber ein Jahr dazwischenschieben und entspannt im neuen Alltag ankommen.“

Ferda Ataman

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