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Unterricht in der VHS Steglitz.

© Thilo Rückeis

Volkshochschulen in Berlin: Kurse für Geflüchtete: Sie lernen, um zu bleiben

Die Volkshochschulen sind größter Anbieter von Kursen für Geflüchtete. Doch wo Integration konkret wird, fehlen Lehrer. Ein Report.

„Was ist eine Abkürzung?“, fragt Basir. Er kommt aus Afghanistan und sitzt mit 13 anderen Geflüchteten in einem Intensivdeutschkurs der Volkshochschule Berlin-Mitte. Edith Kalka, die Kursleiterin, überlegt kurz und schreibt dann in großen Lettern „Lageso“ an die Tafel. „Das ist eine Abkürzung“, sagt sie, und es bedarf keiner weiteren Erklärung. 14 Köpfe nicken, das Lageso kennen alle.

VHS, auch das ist eine Abkürzung, und diese drei Buchstaben bedeuten für Hunderttausende Geflüchtete die Chance auf einen Neuanfang. Innerhalb nur eines Jahres ist die Volkshochschule zum größten Anbieter von Integrationskursen geworden. Jeder zweite Sprachkurs für Geflüchtete wird in Deutschland von den 957 Volkshochschulen angeboten. 430 000 Menschen sollen so laut Schätzungen 2016 erreicht werden. Das macht die VHS zu einem zentralen Faktor für das Gelingen der Integrationspolitik, oder wie es Michael Weiß, Leiter der Volkshochschule Mitte, sagt: „Wir sind ein großer Player“.

Vor 200 Jahren entstanden die ersten Arbeiterbildungsvereine

Wer die Bedeutung der VHS ermessen will, der muss einen Blick zurückwerfen. Die Geschichte von Deutschlands ältester Institution für Erwachsenenbildung beginnt vor knapp 200 Jahren. Damals entstanden die ersten Arbeiterbildungsvereine. Die Einrichtungen standen immer wieder unter politischer Einflussnahme. 1934 wurden sie zu einem Propagandaorgan der Nationalsozialisten. Nach dem zweiten Weltkrieg sahen die Alliierten in den Volkshochschulen ein Instrument für die Stärkung demokratischer Strukturen. Die Naziideologie sollte peu á peu aus den Köpfen der Menschen wegunterrichtet werden.

Wer heute Bildungsgerechtigkeit fordert, der spricht also ganz im Geiste der Volkshochschule: „Es gibt überhaupt nur ein Thema der VHS, und das ist, damals wie heute, Menschen einen Bildungszugang zu ermöglichen, unabhängig von ihrer finanziellen Ausstattung“, erklärt Michael Weiß. Er begreift die VHS als eine Schule für „biografische Übergänge“.

Acht Monate warten bis zum Kurs

Auch Nazir befindet sich an so einem „biografischen Übergang“. Wenn auch ungewollt. Wie Tausende andere kam er über den Landweg nach Deutschland, hat seine Familie in Syrien zurückgelassen. Nazir sitzt der Frust noch in den Knochen: Acht Monate lang war er zum Nichtstun verdammt, weil ihm die nötigen Papiere für einen Integrationskurs fehlten. Inzwischen sitzt er jeden Tag vier Stunden in der Hochschule für Musik Hanns Eisler, dekliniert Personalpronomen und lernt Vokabeln. „Einstieg Deutsch“ heißt das Angebot, das Nazir, Basir und den anderen Männern das intensive Lernen ermöglicht. Der Kurs dauert sechs Wochen und wird durch ein Online-Angebot und Exkursionen ergänzt. Hier können Geflüchtete ohne Aufenthaltsgenehmigung lernen und die Zeit, bis sie an einem Integrationskurs teilnehmen dürfen, sinnvoll überbrücken.

Damit es dazu kommen konnte, musste sich ein Paradigmenwechsel vollziehen, denn lange galt: Wer keine klare Bleibeperspektive hat, der hat auch kein Anrecht auf Sprachbildung. Schon lange setzt sich die VHS dafür ein, dass auch Menschen ohne längerfristige Aufenthaltsgenehmigung eine Förderung erhalten. Die Überzeugungsarbeit trägt langsam Früchte. „Das ist Teil unseres humanistischen Grundverständnisses“, betont Ernst Dieter Rossmann, Vorsitzender des Deutschen Volkshochschulverbandes. Ganz am Ziel sei man allerdings noch nicht. Zwar reicht heute eine Duldung aus, um an einem Sprachkurs teilnehmen zu dürfen, jedoch richten sich die Kurse offiziell nur an Menschen mit guter Bleibeperspektive aus Syrien, Irak, Iran, Eritrea, Sudan und Somalia.

Nazir, der in Syrien Tierarzt war, darf endlich lernen, und wenn alles gut geht, dann kommt er sogar bis Sprachlevel B2. Das braucht er, um ein Praktikum zu beginnen. Das auf drei Jahre angelegte und mit jährlich 19 Millionen Euro vom Bund finanzierte Programm soll von der sprachlichen Erstbildung bis zum Zugang zum Arbeitsmarkt alles abdecken.

Kurse für unbegleitete Flüchtlinge

Südlich von Berlin, in der VHS Dahme-Spree sitzt an einem Dienstagabend eine Gruppe junger Männer, deren Biografien unterschiedlicher nicht sein könnten. In der vergangenen Woche haben sie die Sprachprüfung B1 absolviert: Mustafa, der Elektroingenieur aus Iran, ein Internist aus Syrien und Maliki und Abdi, die in ihrer Heimat Somalia nur ein paar Jahre die Schule besucht haben. Vor 11 Monaten kamen sie in Deutschland an, als unbegleitete Jugendliche  – und Analphabeten.

Als 2015 die ersten unbegleiteten Flüchtlinge in den Landkreis kamen, reagierte die VHS sofort. In wenigen Wochen entstanden Alphabetisierungs- und Sprachkurse wie dieser. Lehrer Leonid Sutyka, der die Gruppe seit Beginn unterrichtet, sagt: „Wir haben auch samstags gepaukt, ich habe so viel Motivation noch nie erlebt.“ Das Ziel der Jungs ist es, am Oberstufenzentrum aufgenommen zu werden und dort einen zweijährigen Berufslehrgang zu absolvieren.

Lehrkräfte werden von anderen Trägern abgeworben

Integration, das zeigt sich hier, wird vor allem auf kommunaler Ebene entschieden. Möglich wird das durch die enge Zusammenarbeit der VHS mit dem Landkreis oder in Berlin mit den Bezirksämtern und Erstannahmestellen, Schulen und Jugendämtern. Und weil die VHS-Mitarbeiter Tag für Tag an die Grenze ihrer Belastbarkeit gehen. Denn es fehlt an Lehrpersonal. Zwar wurden vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Tausende neue Lehrkräfte zertifiziert, die große Mehrheit kommt aber nie in den Kursen an. Viele werden von anderen Bildungsträgern abgeworben. Die zahlen meist mehr oder bieten eine Festanstellung. „Noch kommen wir zurecht, aber ich weiß nicht, wie es werden soll, wenn noch mehr Menschen kommen“, sagt Maik Neudorf von der VHS Dahme-Spree.

Volkshochschulen: Nummer eins in der Erwachsenenbildung

Die Volkshochschulen sind Hauptträger der Erwachsenenbildung, in jedem Bezirk gibt es eine VHS. Das Kursangebot ist riesig, es reicht von Sprachen über Kreativ- und Sportangebote bis zur beruflichen Weiterbildung. Für berufsbezogene Kurse kann man unter Umständen Bildungsurlaub nehmen. Ein halbjähriger Fremdsprachenkurs kostet rund 100 Euro, ermäßigt 50 Euro. Integrations- und Sprachkurse für Flüchtlinge sind kostenlos. Zum Kurs „Einstieg Deutsch“ gibt es auch eine App zum Selbstlernen.

Weitere Informationen: www.berlin.de/vhs.

Antonia Märzhäuser

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