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Als es zum Schwur kam. Rütli-Schüler geben sich anno 2006 dunkel und etwas bedrohlich - und damit der Welt, was sie sehen will.

© IMAGO/Christian Schroth

Schulen in sozialen Brennpunkten: Was hat Berlin aus dem Rütli-Brandbrief gelernt?

Der Brandbrief machte den Unterschied: Während die Rütli-Schule seit zehn Jahren stark gefördert wird, ist die Pusteblume-Schule in Hellersdorf immer noch Problemkind. Zwei Chroniken, eine Lehre.

Am 27. Februar 2006 platzte es aus Petra Eggebrecht heraus. Da war sie seit drei Monaten kommissarische Leiterin der Rütli-Hauptschule in Neukölln und sah angesichts von Verrohung und Perspektivlosigkeit ihrer Schüler keine Möglichkeit mehr, als der „Sehr geehrten Frau Fischer“ unverblümt die Lage zu schildern. Auf zwei eng beschriebenen Seiten fand Eggebrechts Bestandsaufnahme Platz, die sie vom Kollegium abstimmen ließ, an ihre Schulrätin richtete, und die sich letztlich zur Mutter aller Brandbriefe mauserte.

Wie konnte das geschehen?

„Der Intensivtäter wird zum Vorbild.“

„Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen.“

„Einige Kollegen gehen nur noch mit dem Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können.“

Es waren Sätze wie diese, die wenig später durch die Republik hallten. Von gezündeten Knallkörpern war die Rede und von menschenverachtendem Auftreten mancher Schüler.

Petra Eggebrecht und ihre Kollegen trauten sich aber noch viel mehr als nur eine harte Bestandsaufnahme. Sie forderten die Abschaffung der Hauptschulen und baten um die Weiterleitung ihres Schreibens an zwölf verschiedene Instanzen: von der Senatsverwaltung für Bildung über Neuköllns Bürgermeister bis hin zum Abgeordnetenhaus, zum Gesamtpersonalrat, den BVV-Fraktionen und dem Migrationsbeauftragten.

Die Leiterin der Gemeinschaftsschule Campus Rütli, Cordula Heckmann, beim "Klassenrat" mit Siebtklässlern. Foto: Doris Spiekermann-Klaas
Die Leiterin der Gemeinschaftsschule Campus Rütli, Cordula Heckmann, beim "Klassenrat" mit Siebtklässlern. Foto: Doris Spiekermann-Klaas

© Doris Spiekermann-Klaas

So nahm die Sache ihren Lauf und landete beim Tagesspiegel, der den Brief vor genau zehn Jahren, am 30. März 2006, veröffentlichte. Dann ging es Schlag auf Schlag:

31. März 2006: Die Bundeskanzlerin ermahnt den Senat wegen seiner Versäumnisse bei der Integration. Weitere Hauptschulleiter fordern die Abschaffung ihrer Schulform. Der Bundeselternrat votiert für verbundene Haupt- und Realschulen. Berlins Hauptschulreferent Siegfried Arnz bittet den erfolgreichen Rektor der Reinickendorfer Paul-Löbe-Schule, Helmut Hochschild, als Interimsleiter bei Rütli einzuspringen.

1. April 2006: Die Lehrer der Weddinger Plievier-Hauptschule schreiben ebenfalls einen Brandbrief. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber fordert einen Neubeginn bei der Integration.

2. April 2006: CDU/CSU-Fraktionschef Volker Kauder erwartet, dass Integration zur „nationalen Aufgabe“ werden müsse.

3. April 2006: Helmut Hochschild tritt sein Amt an. Als er mit seinem Motorrad aufkreuzt, hat er bei den Schülern bereits gewonnen.

4. April 2006: Auf einer Pressekonferenz in der Bildungsverwaltung gelingt es Hochschild, gedämpften Optimismus zu verbreiten. Der Jugendausschuss der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung tagt in der Rütli-Schule.

5. April 2006. „Rütli-Desaster erregt den Bundestag“, vermerkt der „Spiegel“ über eine Aktuelle Stunde zur Gewalt an Schulen. Berlins Bildungssenator Klaus Böger ruft den viel beachteten Satz ins Plenum: „Wir müssen die Kinder als unsere Kinder annehmen und nicht wegschieben.“ Am selben Tag trifft er die Hauptschullehrer, die fast einstimmig für die Auflösung ihrer Schulform votieren. Böger lehnt diese Konsequenz ab.

In Hellersdorf gab es keinen Brandbrief

Rund 20 Kilometer östlich der Rütli-Straße, in Hellersdorf, war zur gleichen Zeit noch eine weitere Schule dabei, vor die Hunde zu gehen. Und zwar ganz ohne die Begleitmusik von Knallkörpern und ohne das Machogehabe arabischstämmiger Pubertisten. Anders als bei Rütli war die Schulleitung nicht unbesetzt, sondern einfach nur schwach, und ein Brandbrief wurde auch nicht geschrieben. Es gab kein von außen wahrnehmbares Warnsignal – bis 2008 erstmals die Schulinspekteure kamen.

Mit diesem Instrument guckt die Bildungsverwaltung seit 2005 systematisch hinter alle öffentlichen Berliner Schultüren. Was sie damals an der Pusteblume-Grundschule vorfanden, gefiel den Inspekteuren gar nicht, und sie senkten den Daumen. Somit gehörten die Hellersdorfer zu den knapp fünf Prozent Berliner Schulen, denen ein „erheblicher Entwicklungsbedarf“ bescheinigt wurde. Was so viel bedeutet wie: durchgefallen. Die Inspekteure vermissten Führungshandeln, Qualitätsmanagement, kollegiale Gesamtverantwortung, guten Unterricht und Sprachförderung.

Die Pusteblume-Schule liegt in einer der sozial prekärsten Gegenden Hellersdorfs.
Die Pusteblume-Schule liegt in einer der sozial prekärsten Gegenden Hellersdorfs.

© Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf

Vielleicht hätte es den „Durchfaller-Schulen“ in der Folge geholfen, wenn ihre Namen in dieser ersten Inspektionsrunde zwischen 2005 und 2010 bekannt geworden wären. Es wäre unbequem gewesen, hätte aber vielleicht eine Verhaltensänderung bewirkt. Aber es wurde anders entschieden: Um die Akzeptanz der Schulen gegenüber den Inspektionen zu erhöhen, blieben ihre Berichte geheim. Das war gut gemeint und sollte die Schulen vor einem schlechten Ruf schützen.

Für die Pusteblume erwies es sich aber als wenig hilfreich. Denn nach dem Inspektionsbericht ging es nicht aufwärts. Die Unterstützung durch externe Berater, die die Bildungsverwaltung zwei Jahre lang in alle schlecht bewerteten Schulen schickt, versandete an der Pusteblume, obwohl es neben Fortbildungen auch Beratungen zum Umgang mit gewaltbereiten Schülern, diverse „Entwicklungsgespräche“ mit der Schulaufsicht, Studientage und Workshops gab. Niemand achtete darauf, dass all das ankam im Verhalten der Lehrer. Und die durch Krankheit unterbesetzte Schulaufsicht hakte kaum nach, obwohl sie wusste, dass die Inspekteure nach zwei Jahren wiederkommen.

Nichts hat sich verändert

Als die sich 2010 dann abermals die Schule vornahmen, war fast alles beim Alten. Wieder vermissten sie Personal-, Schul- und Qualitätsentwicklung, verlässliche Entscheidungsstrukturen, Eltern- und Schülerbeteiligung, Sprachförderung und Kommunikationskultur im Kollegium. Ansätze zur Verbesserung gab es kaum. Im Gegenteil. Nun waren sogar Probleme dazugekommen – etwa die mangelnde Unterstützung der Kinder mit Behinderung. Außerdem wurde bemängelt, dass das Erziehungskonzept der Schule die speziellen Probleme im sozialen Brennpunkt nicht berücksichtige. Die Inspekteure ließen auch nicht unerwähnt, dass die Schulaufsicht ihre Aufgabe nicht genügend wahrnehme. Das war dann eine direkte Kritik an der Senatsverwaltung für Bildung.

Aber auch das versandete, denn auch dieser Inspektionsbericht wurde nicht öffentlich. Und ein Brandbrief wurde noch immer nicht geschrieben. Von wem auch? Die Lehrer waren froh, dass sie im alten Stil weiterunterrichten konnten, die Eltern, zumeist ebenso bildungsferne wie vom Arbeitsmarkt abgekoppelte Transferleistungsempfänger, hielten sich raus, weil sie es nicht besser wussten. Damit begann abermals ein dreijähriger Stillstand.

Die Rütli-Wear wurde zum Bestandteil des Aufschwungs

Da hatte die Rütli-Schule ihre düstere Vergangenheit schon hinter sich gelassen. Sozialarbeiter kamen und sogar „Mitarbeiter anderer Kulturkreise“, wie Petra Eggebrecht in ihrem Brief gefordert hatte. Und es gab eine Menge Hilfsangebote. Zunächst übte die Tanzgruppe „Young Americans“ eine Bühnenshow ein; dann organisierten junge Produktdesigner mit den Schülern Siebdruckkurse für die „Rütli-Wear“ – darunter T-Shirts mit dem Namenszug der Schule.

Diese kamen zum Einsatz, als der neue Schulleiter der Presse vorgestellt wurde: Im Herbst 2006 löste Aleksander Dzembritzki Helmut Hochschild ab. Vor den Augen der Pressefotografen streiften Böger und Hochschild Dzembritzki ein rotes Shirt mit weißem Rütli-Schriftzug über. Der 38-jährige Reinickendorfer war eigens aus Schleswig-Holstein zurückgeholt worden, wohin er zuvor mangels Berliner Lehrerstellen ausgewichen war.

Im Herbst 2006 streifen Bildungssenator Klaus Böger (links) und der Rütli-Interimsschulleiter Helmut Hochschild dem neuen Leiter Aleksander Dzembritzki ein Shirt aus der Rütli-Wear-Kollektion über.
Im Herbst 2006 streifen Bildungssenator Klaus Böger (links) und der Rütli-Interimsschulleiter Helmut Hochschild dem neuen Leiter Aleksander Dzembritzki ein Shirt aus der Rütli-Wear-Kollektion über.

© Steffen Kugler dpa

Unter Dzembritzki, der bis 2009 die Schule leitete, ging es weiter bergauf. Die Stiftungsinitiative „Ein Quadratkilometer Bildung“ begann ihr Engagement, indem sie sich im Reuterkiez neben der Rütli-Schule um den Übergang von der Kita in die Grundschule kümmerte, eine Pädagogische Werkstatt entstand, weitere Lernwerkstätten wurden aufgebaut und ein Stipendienprogramm aufgelegt.

Das alles wurde aber noch getoppt durch das, was 2007 passierte: Die Gründung des „Campus Rütli“ unter der Schirmherrschaft von Christina Rau setzte den Rahmen, den der Bezirk Neukölln, die Senatsverwaltungen für Bildung und Stadtentwicklung sowie etliche Stiftungen ausfüllten.

Als Koordinator fungierte der angesehene ehemalige Direktor des Britzer Albert-Einstein-Gymnasiums, Klaus Lehnert - eine Idee des Neuköllner Bürgermeisters Heinz Buschkowsky. Und schon bewarb sich die Rütli-Schule mit der benachbarten Heinrich-Heine-Realschule und der Schubert-Grundschule um die Teilnahme am Pilotprojekt Gemeinschaftsschule. 2009 erfolgte die Fusion zur „1. Gemeinschaftsschule Berlin, Bezirk Neukölln“ unter der Leitung der damaligen Heinrich-Heine-Direktorin Cordula Heckmann, die für ihre Aufbauleistung großen Respekt genießt und den Campus Rütli bis heute leitet.

Cordula Heckman leitet den Campus Rütli seit der Fusion von Heinrich-Heine- und Rütli-Schule.
Cordula Heckman leitet den Campus Rütli seit der Fusion von Heinrich-Heine- und Rütli-Schule.

© Doris Spiekermann-Klaas

An der Rütli-Schule ging es bergauf - an der Pusteblume-Schule weiter bergab

Und so ließ der Schwung nicht nach: Er führte dazu, dass Kooperationen mit der Deutschen Bahn, dem Maxim Gorki Theater und der Musikschule entstanden. Hinzu kam eine Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Neukölln: Sie bietet seit 2009 muttersprachliche Türkisch- und Arabisch-Kurse an, die in eine Prüfung nach dem „europäischen Sprachenreferenzrahmen“ münden. Damit besteht für die Schüler die Möglichkeit, ihre Familiensprache als zweite Fremdsprache für die gymnasiale Oberstufe anerkannt zu bekommen.

Während aus dem Rütli-Schock längst eine Rütli-Lektion geworden war, ging es an der Pusteblume-Schule weiter bergab. Die Pensionierung des Schulleiters im März 2012 brachte nicht den erhofften Aufschwung in Person einer guten neuen Führungskraft. Stattdessen begann eine beispiellose Vakanz: Erst sprang die stellvertretende Schulleiterin ein, dann kamen und gingen „verschiedene Externe“, die parallel an ihren eigenen Schulen tätig waren.

So steht es im dritten Inspektionsbericht, der Ende 2015 vorgelegt und auch öffentlich wurde, denn das war inzwischen für alle neuen Inspektionsberichte beschlossen worden. Die stellvertretende Schulleiterin hatte die Schule schon im August 2013 verlassen. Somit war die Schulleitung verwaist und die Schulaufsicht beauftragte eine Lehrkraft aus Wedding mit der Leitung. Ihr großes Engagement ist das Einzige, was die Schulinspekteure diesmal lobten.

Lehrer "boykottieren" Absprachen

Ihr Bericht geriet zu einer einzigen Anklage an Schulaufsicht und Kollegium. Demnach gab es zwischenzeitlich weder einen „rechtskonformen“ Stundenplan noch sonderpädagogische Förderstrukturen. Nicht einmal für Tage der offenen Tür hatte zwischenzeitlich das Interesse oder die Kraft gereicht. Auch sonst: Versagen auf der ganzen Linie. Die Inspekteure protokollierten, dass einzelne Lehrer Absprachen „boykottieren“ oder ihre in den Stundenplänen vorgesehenen Teilungsstunden nicht erteilten, weshalb die beauftragte Leiterin „einen Großteil ihrer Zeit“ damit verbringen müsse, die Lehrer zu kontrollieren. Anarchische Zustände.

„Der beauftragten Schulleiterin ... ist es noch nicht gelungen, die vorherrschende Verweigerungshaltung im Kollegium aufzulösen“, lautete das Resümee der Inspekteure. Sie stellten nunmehr auch fest, dass erhebliche Unterrichtsstörungen konzentriertes Arbeiten „nur eingeschränkt möglich machen“. Und obwohl sich die Zahl der Migrantenkinder seit der letzten Inspektion verdoppelt hatte, konnten die Inspekteure noch immer kaum Sprachförderung beobachten. Schlimmer noch: Die Lehrer taugten noch nicht einmal als Sprachvorbilder, da sie „Dialekt oder umgangssprachlich sprechen“.

Pusteblume-Schule fiel als einzige Schule Berlins dreimal bei Inspektion durch

Offenbar ließen auch die Ergebnisse bei den deutschlandweiten Vergleichsarbeiten zuletzt noch zu wünschen übrig, jedenfalls veranlasste die neue beauftragte Schulleiterin (die uns leider nicht für ein Interview zur Verfügung stand), dass die Ergebnisse in einem umfangreichen Bericht dokumentiert wurden. Auch sonst schob sie etliche Verbesserungen wie ein Kinderparlament oder bessere Hausaufgabenbetreuung an. Aber all dies reichte nicht, um die verheerende Performance von Teilen des Kollegiums wettzumachen.

Im Ergebnis ist die Pusteblume-Schule die bisher einzige Schule Berlins, die zum dritten Mal bei der Inspektion durchfiel. Die Inspekteure kamen zu dem Schluss, „dass ohne gezieltes Eingreifen der Schulaufsicht, personelle Konsequenzen und professionelle Beratung eine nochmalige Nachinspektion keine neuen Erkenntnisse hervorbringen wird“. Deutlicher konnten sie nicht werden.

Zu diesem Zeitpunkt hatte es der Campus Rütli längst zu drei neuen Highlights gebracht:

2011: Die ersten Schüler werden in die neue gymnasiale Oberstufe der Gemeinschaftsschule auf dem Campus Rütli aufgenommen.

2012: Die neu gebaute Quartiershalle auf dem Campus wird eingeweiht.

2014: Die ersten Abiturienten erhalten in der Rütlistraße ihr Abiturzeugnis.

Aber nicht nur das: Auch ein erfolgreicher Inspektionsbericht liegt inzwischen vor. Er bescheinigt Schulleiterin Heckmann Höchstleistungen, lobt das „motivierte, Neuerungen gegenüber aufgeschlossene Kollegium“ sowie das „positive Schulklima“.

Wie alles begann: Schüler der Rütli-Schule beim Auftritt mit der amerikanischen Gruppe "Young Americans" im Mai 2006 während der Bühnenshow "Rütli tanzt, wir können auch anders".
Wie alles begann: Schüler der Rütli-Schule beim Auftritt mit der amerikanischen Gruppe "Young Americans" im Mai 2006 während der Bühnenshow "Rütli tanzt, wir können auch anders".

© picture-alliance/ dpa

Und was beobachten die Eltern? „Mein Kind blüht auf“, beschreibt die 42-jährige Fatma Gülay die Wirkung der Schule. „Gut aufgehoben“ seien die Kinder. Und was ist mit dem bösen Wort von den „Schweinefleischfressern“, mit dem Rütli-Schüler früher gern mal die letzten verbliebenen deutschstämmigen Mitschüler drangsaliert haben sollen? Das fragte sich auch Lisa Drossard, 35, als sie ihren Sohn hier einschulte – aber er sei „offen und herzlich begrüßt worden“, ihre Sorgen hätten sich nicht bewahrheitet. Sie hat das Gefühl, „dass hier nichts passieren kann“.

Auch Siyar, 20, hat sich überlegt, ob er sich das antun will: eines Tages Bewerbungen schreiben mit einem Zeugnis der Rütli-Schule. Denn trotz aller Erfolge der Schule ist ihr Name doch noch bei vielen mit der Vorstellung von Chaos verbunden, wie es an der alten Rütli-Hauptschule geherrscht hatte. Aber dann dachte Siyar: „Zu einem Arbeitgeber, der solche Vorurteile hat, will ich sowieso nicht.“ Aber erst mal will er ja nun das Abitur machen. Siyar sitzt mit einigen seiner Mitschüler in einem kleinen Aufenthaltsraum, um über seine Schule zu reden. Für ihn überwiegt das Positive bei Weitem – auch wenn es durchaus noch Probleme gibt. Zum Beispiel zwischen kurdischen und türkischen Schülern.

Aber: „So etwas arbeiten wir auf“, schiebt er schnell hinterher. Was eine Schülerin, die aus der Uckermark nach Berlin gezogen ist, bestätigt: „Keiner wird gemobbt wegen seines kulturellen Hintergrunds“, sagt sie. Allerdings war sie vorsichtig gewesen, hatte zunächst hospitiert. Dann war ihr klar: Sie wird hierbleiben.

Müssen in Berlin erst Brandbriefe geschrieben werden?

Ebenfalls überfordert im schwierigen Kiez: Die Mozart-Schule in Hellersdorf.
Ebenfalls überfordert im schwierigen Kiez: Die Mozart-Schule in Hellersdorf.

© Susanne Vieth-Entus

„Unsere Aufgabe ist es, Missstände vorher zu erkennen“, sagt Siegfried Arnz. Er ist nicht nur Abteilungsleiter in der Senatsverwaltung für Bildung, sondern hatte auch eine erfolgreiche Hauptschule geleitet, bevor der damalige Senator Böger ihn zum Hauptschulreferenten machte. Arnz legt Wert auf die Feststellung, dass die Zuweisung von Sozialarbeitern an alle Hauptschulen schon vor dem Rütli-Brief beschlossene Sache gewesen war.

Aktuell muss sich die Bildungsverwaltung erneut mit einem Brandbrief beschäftigen: Er kam im Januar von den Eltern der Hellersdorfer Wolfgang-Amadeus-Mozart-Gemeinschaftsschule und prangerte Gewalttätigkeit unter Schülern an, aber auch chaotische Zustände in einigen Klassen. In der Folge konnte der Direktor der traditionsreichen Neuköllner Walter-Gropius-Schule, eine der ältesten Gesamtschulen der Stadt, dafür gewonnen werden, übergangsweise nach Hellersdorf zu kommen. An drei Tagen pro Woche hilft er nun an der Mozart-Schule aus, bis eine neue Leitung gefunden ist. Insofern gilt für die Mozart-Schule durchaus: Es musste erst ein Brandbrief geschrieben werden.

Der Druck fehlt

An der Pusteblume-Schule fehlte dieser äußere Brandbrief-Druck. Zwar nennt die Bildungsverwaltung zahlreiche Versuche, der Schule zu helfen; auch sei ein Drittel des Kollegiums seit 2013 „gewechselt worden“. Offenbar verpuffte aber alles, was jedoch nur auffiel, weil die Inspekteure Ende 2015 abermals Alarm schlugen.

Können aber Inspektionsberichte Brandbriefe ersetzen? Eher nicht, zumindest nicht in ihrer jetzigen Form. Denn zwar müssen die Berichte seit einigen Jahren veröffentlicht werden. Aber man findet sie nur schwer, sie werden nicht automatisch auf der Homepage der Schulen verlinkt. Nur interessierte und eingeweihte Eltern wissen, dass man auf ein spezielles Portal der Bildungsverwaltung zugreifen muss, unter dem alle sogenannten Schulporträts abgelegt sind.

Auch die Quote der Schwänzer, des Stundenausfalls und die Durchschnittsnoten bei den zentralen Prüfungen finden sich hier. Je ärmer und bildungsferner der Kiez, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern herausfinden, wie heruntergewirtschaftet die Schule ihrer Kinder ist. Auch im Rütli-Kiez waren es eben nicht die Eltern, die Alarm schlugen, sondern die im aufmüpfigen West-Berliner Lehrer- und Gewerkschaftsmilieu sozialisierte Akademikerin Petra Eggebrecht.

Keine Region in Berlin hat schlechtere Sozialdaten als dieser Kiez

In Marzahn-Hellersdorf gibt es diese im Westen sozialisierten Lehrer kaum: Pädagogen aus Steglitz, Spandau, Hamburg, Bayern oder Baden-Württemberg sind wohl in attraktiven Ost-Bezirken wie Pankow oder Alt-Mitte anzutreffen, kaum aber in den Plattenbauregionen. Es gebe da noch einige „Mentalitätsunterschiede“, formuliert vorsichtig der Tempelhof-Schöneberger Personalrat Norbert Gundacker. Andere diagnostizieren eine DDR-geprägte Angst vor der Obrigkeit, die eine offene Rebellion verhindere, aber eine klammheimliche in Form von Arbeitsverweigerung, wie an der Pusteblume-Schule, einschließen könne.

„Der soziale Niedergang schreitet schneller voran, als die Schulen sich entwickeln können“, bedauert Pastor Bernd Siggelkow, der Gründer des Kinderhilfswerks „Arche“. Die Arche ist an der Pusteblume- und an der Mozart-Schule aktiv, versorgt die bedürftigen Kinder mit einem Frühstück. Es gibt keine Region in Berlin, die schlechtere Sozialdaten hat als dieser Kiez an der Grenze zu Brandenburg. Ähnlich wie auf dem Rütli-Campus leben drei Viertel der Pusteblumen-Kinder in Hartz-IV-Haushalten.

Hinzu kommt, dass Marzahn-Hellersdorf einen Negativrekord bei den Gewaltdelikten der unter 14-Jährigen und bei der häuslichen Gewalt jugendlicher Täter hält. Dies bestätigte gerade erst wieder ein Bericht der Landeskommission gegen Gewalt. „Ich habe schon vor zehn Jahren gesagt, dass wir an den Schulen in dieser Region Wachschutz brauchen, wenn nicht gegengesteuert wird“, erinnert sich Pastor Siggelkow, als jetzt die Mozart-Eltern nach einem Wachschutz rufen. Viel stärker aber, sagt er, würden Sozialarbeiter, Logopäden und Psychologen gebraucht, um die Probleme in den Griff zu bekommen.

Eltern der Mozart-Schule fordern einen Wachschutz, um die Schule vor jedweden Attacken zu schützen.
Eltern der Mozart-Schule fordern einen Wachschutz, um die Schule vor jedweden Attacken zu schützen.

© Susanne Vieth-Entus

Was das bedeutet, lässt sich auf dem Rütli-Campus besichtigen: Dort gibt es rund 30 Sozialarbeiter und Erzieher, wie Leiterin Cordula Heckmann vorrechnet, und überdies noch Wachschützer. Zum Vergleich: An der Mozart-Schule schafft es ein 14-Jähriger gewalttätiger ehemaliger Schüler seit geraumer Zeit, die Lehrer in Angst und Schrecken zu versetzen. „Wenn die Polizei ihn abgeholt hat, ist er kurze Zeit später wieder da“, berichtet eine Lehrerin. Seit Jahren schon sei der Jugendliche ein Problemfall. Die Schule fühlt sich ausgeliefert.

Die Brennpunktschulen in Marzahn- Hellersdorf haben in Kooperation mit freien Trägern und dem Jugendamt sozialpädagogische Übergangsklassen eingerichtet, berichtete die Bildungsverwaltung kürzlich, als die Linken-Abgeordnete Gabriele Hiller wissen wollte, wie der Senat auf die Jugendgewaltdelinquenz im Bezirk reagiere. Es gebe zudem Kooperationsverträge mit der Polizei und „besondere Angebote der Schulsozialarbeit“. Hiller fragt sich, warum all das kaum fruchtet. Und sie fragt sich, welchen Sinn Schulinspektionsberichte machen, „wenn sie nicht dazu genutzt werden, um Schulen zu helfen“. „Da scheint etwas nicht zu funktionieren“, diagnostiziert sie mit Blick auf Schulen wie die Pusteblume. Und Hiller hat den Eindruck, dass die Schulaufsicht „nicht hilft, sondern von oben dirigiert“.

Drei Schulen in Friedrichshain-Kreuzberg bekommen Turnaround-Förderung

Die Rettung für die Pusteblume-Schule hätte vom sogenannten Turnaround-Programm kommen können, mit dem die Bosch-Stiftung und die Bildungsverwaltung seit 2013 besonders problematische Schulen unterstützen (siehe Grafik unten). Doch während es Friedrichshain-Kreuzberg gelang, drei Schulen in dem Programm unterzubringen, erhielten in Marzahn-Hellersdorf nur zwei den Zuschlag. Die Pusteblume-Schule habe die notwendigen Kriterien nicht erfüllt, so die Bildungsverwaltung. Um welche es sich konkret handelte, wurde auch auf Nachfrage nicht klar.

Sie schrieb den Brandbrief: Die damalige kommissarische Schulleiterin der Rütli-Schule, Petra Eggebrecht, hier zusammen mit Schülersprecherin Katrin El-Mahmoud während einer Pressekonferenz im April 2006.
Sie schrieb den Brandbrief: Die damalige kommissarische Schulleiterin der Rütli-Schule, Petra Eggebrecht, hier zusammen mit Schülersprecherin Katrin El-Mahmoud während einer Pressekonferenz im April 2006.

© IMAGO

Ist das, was bei Rütli nach dem Brandbrief passierte, allgemeingültig? Und wenn nicht: Wer muss die Brandbriefe auf welche Art und zu welchem Zeitpunkt schreiben, damit sie Wirkung erzielen und eine Lektion erteilen? Das ist schwer vorauszusagen. Die dramatisch formulierten Überlastungsanzeigen, die, inspiriert vom Rütli-Brief, immer mal wieder aus den bezirklichen Personalräten versendet werden, verpuffen meist: Der Leser wird das Gefühl nicht los, dass oft nicht direkt betroffene Lehrer und Eltern, sondern Gewerkschaften die Feder führen.

Erfolg hatte 2009 ein Brandbrief der Schulen in Mitte: Er entfaltete Wirkung, weil sehr viele Schulen beteiligt waren. Die Verfasser wurden sogar ins Bundeskanzleramt eingeladen. Zwar führte die Aktion nicht zu greifbaren Verbesserungen wie bei Rütli und hatte auch nicht eine solche Signalwirkung. „Aber die Bildungsverwaltung hat durch diese Brandbriefe seit Rütli gelernt, dass man nicht abwarten darf, bis Schulen endgültig gegen die Wand fahren“, resümiert der ehemalige Schulleiter Jens Großpietsch. Projekte wie das Turnaround-Programm seien daraus die Folge, auch wenn – siehe Pusteblume – noch nicht jede Schule erreicht werde.

Ein GEW-Mann sorgte für die Veröffentlichung des Brandbriefes

„Sobald etwas in der Presse steht, wird hingeguckt“, begründet Ruby Mattig-Krone die Wirkung von Brandbriefen. Dennoch weiß die Qualitätsbeauftragte der Bildungsverwaltung nach fünf Jahren in diesem Ehrenamt, dass es bei vielen Problemen auch ohne Brandbrief gehen kann. Auch wer sich bei ihr meldet, könne mit Hilfe rechnen. Marzahn-Hellersdorf melde sich allerdings nur selten.

Zehn Jahre ist es her, dass der Rütli-Brandbrief geschrieben wurde. Vier Wochen lang hatte er auf den Schreibtischen der Behörden herumgelegen, als Norbert Gundacker beschloss, ihn an den Tagesspiegel zu schicken. Niemals hätte er damit gerechnet, dass Petra Eggebrechts Brief eine solche Wucht entwickeln würde und sogar den Bundestag und internationale Medien beschäftigen sollte. Diese eigentümliche Wirkung habe vielleicht damit zu tun, dass Eggebrecht aus der Not heraus geschrieben habe. „Es kam aus erster Hand.“

Norbert Gundacker war Hauptschulreferent der GEW, als er sich 2006 für die Veröffentlichung des Brandbriefes entschied.
Norbert Gundacker war Hauptschulreferent der GEW, als er sich 2006 für die Veröffentlichung des Brandbriefes entschied.

© GEW-Berlin

Dieser Beitrag ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen. Den gesamten Brandbrief können Sie, liebe Leserinnen und Leser, hier im Original als pdf-Download nachlesen.

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